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Berlin/Moskau
Zar Nikolaus, Stalin, Putin: Der politische Mord gehört zum russischen Alltag
Die Geschichte Russlands ist durchzogen von Attentaten. Putin führt die blutige Tradition fort - und will vor allem eine Gruppe einschüchtern.
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Foto: Dmitri Lovetsky, dpa (Archivbild) | Politischer Mord ist wesentlicher Bestandteil der russischen Geschichte. Stalin ließ einst Hunderttausende töten, Putin konzentriert sich auf die großen Namen.
Jonas Klimm
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:42 Uhr

Als Putin ihn als "Verräter" brandmarkte, war sein Schicksal besiegelt. Vergangene Woche stürzte Jewgeni Prigoschin vom russischen Himmel – mit ihm die engsten Mitstreiter der Wagner-Gruppe. Es war der Preis, den der blutrünstige Söldnerführer für seinen Putsch-Versuch vom 24. Juni zu zahlen hatte. Dass Putin den Befehl zur Ermordung seines langjährigen Vertrauten gegeben hat, bezweifelt außerhalb Russlands kaum einer. Prigoschin ist ein weiterer Toter auf einer schier endlosen Liste politischer Morde in der Geschichte des Weltreichs.

"Der politische Mord ist zwar kein ausschließlich russisches Phänomen", sagt Politikwissenschaftlerin und Russlandexpertin Sarah Pagung von der Körber-Stiftung im Gespräch mit unserer Redaktion. "Trotzdem gibt es eine spezifische Geschichte in Russland und der ehemaligen Sowjetunion." Schon während der russischen Revolution von 1905 habe Zar Nikolaus II. die Aufständischen ermorden lassen. Nach der Oktoberrevolution, in deren Folge die Bolschewiki unter Lenin die Herrschaft übernommen hatten, musste die Zarenfamilie selbst dran glauben. In einem Keller in Jekaterinburg starben die Romanows im Kugelhagel. 

Von Stalins "Großem Terror" waren Millionen Russen betroffen

Unter Diktator Josef Stalin erreichten die politischen Morde einen bis dahin ungeahnten Höhepunkt. "Vom 'Großen Terror' in den 30er Jahren waren Millionen betroffen", erklärt Pagung. "Politiker, Intellektuelle, Wissenschaftler, Militärs. Es traf die gesamte Elite." Der aktuelle Präsident Wladimir Putin macht seit Jahren keinen Hehl aus seiner Bewunderung für den Massenmörder. Und dennoch, bei Putins Mordbefehlen sieht Russlandexpertin Pagung keine Traditionslinie zu Stalin: "Das Ausmaß der Morde in den 30er Jahren war viel ausgeprägter", sagt sie.

In den 90er Jahren keimten leise Hoffnungen nach einer Aufarbeitung des Stalin-Terrors auf. Manche, der durch den Menschenvernichtungsapparat Geschundenen, wurden gar rehabilitiert. Stalin wurde mehr und mehr als das gesehen, was er war: ein Menschenschlächter. Putin will dieses Bild revidieren – mit Erfolg. Umfragen zeigen: Die Popularität Stalins hat in Russland in den zurückliegenden 20 Jahren deutlich zugenommen.

Für den Historiker und Osteuropa-Experten Jan-Claas Behrends keine Überraschung: "Putin soll seine drei historischen Vorbilder gegenüber dem früheren polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski genannt haben: Peter den Großen, Katharina die Große und Iosif Wissarionowitsch, besser bekannt als Stalin", sagt Behrends. "Putin sieht die Millionen Russen, die Stalin hat töten lassen, als Preis für die Modernisierung und für den Sieg im Zweiten Weltkrieg." 

Die "nassen Sachen" – so bezeichnet der KGB politische Morde – ziehen sich durch die Sowjetzeit. Behrends nennt den umstrittenen ukrainischen Politiker Stepan Bandera, den ein Agent des russischen Geheimdiensts 1959 in München ermordet hat. Oder das Attentat auf den polnischen Papst Johannes Paul II., welches nie ganz aufgeklärt wurde, bei dem aber einiges dafür spreche, dass es eine Mitwirkung östlicher Dienste gegeben habe. Auch nach dem Ende der Sowjetunion und des KGB beendete man die Praxis politischer Morde nicht. "In den 90er Jahren unter Boris Jelzin ist extrem viel gemordet worden", sagt Behrends. 

Putin ließ zahlreiche russische Oppositionspolitiker ermorden

Man müsse sich genau ansehen, auf welche Art und Weise Leute getötet werden. Noch in den 90er Jahren seien viele Menschen erschossen worden. "Bei Putin sah es lange Zeit so aus, als sei seine Lieblingswaffe das Gift", erklärt Behrends. Der russische Präsident ließ 2018 den Ex-Spion Sergej Skripal und dessen Tochter Julia im englischen Salisbury vergiften. Beide überlebten den Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok; eine weitere Frau, die später mit dem Giftbehälter in Kontakt kam, starb.

Der Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa überlebte zwei Giftanschläge und ist seitdem gesundheitlich schwer angeschlagen. Er wurde im April dieses Jahres wegen angeblichen Hochverrats zu 25 Jahren Haft im Straflager verurteilt. Kara-Mursa war einst Berater des Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Dieser wurde 2015 unweit des Kremls auf offener Straße erschossen. Auch hier gilt ein Mordbefehl Putins für westliche Experten als gesichert.

"Bei der Ermordung Prigoschins kann ich eine neue Qualität erkennen", sagt Behrends. "Man bringt ein Flugzeug zum Absturz und nimmt unschuldige Opfer wie den Piloten oder die Flugbegleitung in Kauf." Politikwissenschaftlerin Pagung widerspricht: "Menschenverachtung hat es unter Putin immer gegeben, bei dem Flugzeugabsturz sind vor allem Menschen aus Prigoschins Umfeld gestorben wie Dmitri Utkin." Putin habe die weiteren Toten somit nicht billigend in Kauf genommen, sondern den Anschlag praktischen Erwägungen unterzogen. Nach dem Motto: Je mehr führende Wagner-Leute sterben, umso besser.

Russland-Expertin: Prigoschins Ermordung ist Zeichen an russische Eliten

Einig sind sich die Forscher in dem Signal, das von der Ermordung Prigoschins ausgehen soll. "Es ist ein Zeichen an die russischen Eliten", sagt Pagung. "Prigoschins Todesurteil war, als Putin ihn als 'Verräter' bezeichnet hat." Putin habe bei verschiedenen Gelegenheiten erklärt, er könne damit leben, Gegner zu haben, aber Verräter verdienten den Tod, so Behrends. "Für jetzt war es effektiv, die Oligarchen sehen, wie skrupellos Putin ist." Auf lange Sicht wäre es für den Machthaber besser gewesen, Prigoschin wegen Hochverrats vor Gericht stellen zu lassen. Putin habe sich aber dafür entschieden, den Wagner-Chef ermorden zu lassen. "Langfristig ist das der Weg in den Bürgerkrieg", prognostiziert Behrends. Es sei die Abkehr von jeglicher Gesetzlichkeit, selbst wenn sie nur noch rudimentär vorhanden gewesen sei. "Es ist die Herrschaft willkürlicher Gewalt, die Entwicklung hin zu einem Stalinismus 2.0." 

 
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