Der Zweck heiligt die Mittel, so heißt es. Nach dem ersten der beiden getrennt voneinander stattfindenden Wirtschaftsgipfel der Ampel-Koalition benannte Bundesfinanzminister Christian Lindner eben diesen Zweck folgendermaßen. „Die wirtschaftspolitische Debatte ist da, wo sie hingehört: ganz oben auf der Tagesordnung“, sagte der FDP-Vorsitzende am Dienstag.
Der Befund mag verwundern, schließlich reden die Liberalen seit Monaten über nichts anderes als über eine dringend nötige Wirtschaftswende. Der Wirtschaftsminister von den Grünen – Robert Habeck – tut das auch. Und selbst Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat jetzt den Kämpfer für Industriearbeitsplätze in sich entdeckt. Der 66-Jährige hatte deshalb wenige Stunden nach seinem Finanzminister zu einem zweiten Wirtschaftsgipfel geladen.
Schlamassel von VW steht sinnbildlich für Deutschlands
Vertreten war dort die Großindustrie (und nicht der Mittelstand wie bei Lindner), zum Beispiel VW-Chef Oliver Blume. Europas größer Autokonzern steckt tief im Schlamassel und steht damit sinnbildlich für die gesamte Nation. Nicht einmal mehr Autos kann das Autoland bauen. So der Eindruck. Scholz hat es vorgezogen, dass von der Runde im Kanzleramt keine Bilder entstehen. Sie war von Anfang an nicht auf konkrete Ergebnisse angelegt. Daraus ergeben soll sich ein bislang nicht näher beschriebener „Prozess“, um bis zum Jahresende Vorschläge zur Stärkung der deutschen Industrie zu entwickeln.
Ob das getrennte Gipfelstürmen im ansonsten topographisch ziemlich flachen Berlin dazu führt, dass beide Seilschaften an einem Tau ziehen, ist noch nicht ausgemacht. Womöglich wird ja sogar der eigentlich zuständige Wirtschaftsminister eingebunden. Lindner erklärte jedenfalls, dass demnächst wieder Dreierberatungen mit Scholz und Habeck anstünden. Die Vorschläge der Wirtschaftsvertreter „werden in den Beratungsprozess einfließen.“
Familienunternehmer: Es gibt längst Lösungsvorschläge
Die hierzulande nicht ganz unwichtigen Familienunternehmen verstehen nicht so recht, weshalb angesichts des zweiten Krisenjahres und der breit diskutierten Wachstumsschwäche in Berlin gegipfelt wird. „Das größte Standortrisiko für Deutschland ist eine handlungsunfähige Regierung. Gesprächsrunden helfen nicht weiter, wir brauchen angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage dringend Entscheidungen der Politik“, sagte der Chef der Stiftung Familienunternehmen, Rainer Kirchdörfer unserer Redaktion. Konzepte, wie Deutschland wettbewerbsfähig werde, lägen auf dem Tisch.
Industrie- und Handelskammer rechnet für 2024 mit Stagnation
Dass sich die größte europäische Volkswirtschaft von selbst erholt, weil die Zentralbank die Zinsen nach unten nimmt, darauf sollte die Ampel-Koalition nicht hoffen. In ihrer aktuellen Konjunkturschätzung kam die Deutsche Industrie- und Handelskammer zu dem Schluss, dass auch die von der Bundesregierung prognostizierte Erholung ausfallen wird. Die DIHK sagt für kommendes Jahr eine Stagnation voraus, während die Bundesregierung immerhin mit einem Wachstum von 1,1 Prozent rechnet. Besorgniserregend findet DIHK-Chef Martin Wansleben, dass die Unternehmen nicht mehr an die Zukunft in Deutschland glauben. Die Investitionen in Maschinen, Gebäude und Fahrzeuge liegen ihm zufolge noch immer deutlich unter dem Vor-Corona-Niveau. „Die Anzeichen einer Deindustrialisierung erhärten sich“, warnte Wansleben.
FDP blockiert Schuldenbremse-Idee von SPD und Grüne
An Erkenntnissen und Mahnungen mangelt es also nicht. Doch in den entscheidenden Wirtschaftsfragen liegen die Ampel-Partner über Kreuz. SPD und Grüne würden die Blutarmut mit Schulden bekämpfen, sei es über eine Abwrackprämie (SPD) oder Investitionszuschüsse (Grüne). Das lehnen aber die Liberalen ab. Sie wollen lieber die Steuern für alle senken, ohne freilich zu sagen, wie genau die Einnahmeausfälle kurzfristig ausgeglichen werden sollen.
Die Linke ist sich mit den Familienunternehmen einig, dass die Koalition vom Reden ins Handeln kommen müsste. „Das Gipfel-Chaos der Ampel offenbart eine planlose Wirtschaftspolitik. Der Überbietungswettbewerb, wer Privatinvestoren das meiste Geld verspricht, ist die falsche Antwort auf die Rezession“, sagte die neue Parteivorsitzende Ines Schwerdtner unserer Redaktion. Sie verlangte, dass direkte Hilfen für Unternehmen auch dazu führen müssten, dass der Staat Anteile bekomme. „Wenn der Staat zehn Prozent dazu gibt, muss er auch zehn Prozent mitzureden haben“, meinte Schwerdtner.
Nur: In Berlin wird seit Wochen die Frage rauf- und runterdiskutiert, ob SPD, Grüne und FDP überhaupt noch zusammen weitermachen. Die getrennten Wirtschaftsgipfel gelten als weiteres Scheidungs-Indiz. Den Freien Demokraten wird unterstellt, sich verabschieden zu wollen. Dem widersprach aber Lindner. „Für Deutschland ist es allemal besser, wenn eine Regierung eine gemeinsame Richtung findet, beschreibt und umsetzt.“