Die Bilder sind selbst für abgebrühte Gemüter schwer auszuhalten. Einem der Männer hängen noch die Reste einer Plastiktüte um den Hals. Schwere Blutergüsse breiten sich um sein Auge aus. Einem anderen wurde ein riesiger Verband am rechten Ohr angebracht – oder an dem, was vom Ohr übrig geblieben ist. Ein Dritter sitzt im Krankenhauskittel mit geschlossenen Augen im Rollstuhl, es ist unklar, ob er überhaupt bei Bewusstsein ist. Der vierte Beschuldigte blickt mit geschwollenem Gesicht starr vor sich hin. Die Männer können sich kaum auf den Beinen halten. Schamsiddin Fariduni, Dalerdschon Mirsojew, Saidakrami Murodali Ratschabalisoda und Muchammadsobir Fajsow gehören zu jenen, die von den russischen Behörden beschuldigt werden, den Terroranschlag auf Konzertbesucher verübt zu haben. Am vergangenen Freitag hatten Angreifer die Konzerthalle Crocus City Hall in der Stadt Krasnogorsk bei Moskau gestürmt und mindestens 139 Menschen getötet. Rund 200 weitere wurden verletzt. Doch in das Entsetzen über die Tat mischt sich im Ausland und bei Menschenrechtsaktivisten Bestürzen über die schweren Verletzungen der Angeklagten. Die Tadschiken weisen Spuren von massiven Misshandlungen und Folter auf.
Ungewöhnlicher als die Folter an sich ist etwas anderes: Der Sicherheitsapparat des Kremls versucht nicht einmal, die Bilder unter Verschluss zu halten. Die Aufnahmen aus dem Gerichtssaal sind öffentlich zugänglich. Wer sie sehen möchte, muss nur den X-Kanal von „Mediazona English“ besuchen, auch russische Staatsmedien verbreiten die Fotos und Videos zuhauf. Zu einem Journalisten, der auf die sichtbaren Verletzungen und auf die Foltervideos hinwies, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow lediglich: „Ich lasse diese Frage unbeantwortet.“ Das russische Verteidigungsministerium zeichnete später Sicherheitskräfte für Verdienste „im Laufe der Festnahme der Terroristen“ aus.
Wurden die Verdächtigen mit Stromstößen gefoltert?
Menschenrechtsaktivisten sprechen davon, dass die Tatverdächtigen mit Stromstößen malträtiert worden seien, Kabel seien an den Genitalien angelegt worden. „Die Antwort auf Barbarei darf nicht Barbarei sein“, mahnte die russische Vereinigung „Komanda protiw pytok“ (deutsch: Team gegen Folter). Gewalt und Schikane wirkten sich zudem äußerst negativ auf die Ermittlungen aus, betonten die Aktivisten: „Wir haben immer gesagt und werden immer sagen, dass der Wert von Beweisen, die Sicherheitskräfte durch Folter erreichen, kritisch niedrig ist.“
Folter ist auch in Russland illegal. „Die russische Führung tut immer so, als ginge alles nach Recht und Gesetz, und ist bestrebt, willkürliche Maßnahmen als gesetzeskonform erscheinen zu lassen“, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Jäger von der Universität Köln.“ Deshalb sei es auch besonders aufgefallen, dass gefolterte Gefangene vorgeführt wurden. „Die Botschaften dahinter sind: Den russischen Diensten setzt niemand mehr Grenzen, sie haben die Gewalt nach innen auch ganz offen übernommen“, sagt Jäger. Wer sich mit Russland anlege, werde schweren Schaden nehmen. Das gelte auch für all diejenigen, die wegen Extremismus und Terrorismus - zwei in Russland sehr weit ausgelegte Vorwürfe - verhaftet würden. „Niemand soll es wagen, Kritik an den Diensten zu äußern, weil sie den Terroranschlag nicht verhindert haben“, sagt der Experte. Folter als Ablenkungsmanöver, weil der Staatsapparat die Gefahr des Islamismus sträflich vernachlässigt hat? Auch nun versucht der Kreml, den Verdacht auf die Ukraine zu lenken, das Land, das Wladimir Putin seit zwei Jahren mit einem Krieg überzieht.
Weiß der Kreml vom Vorgehen seines Staatsapparates?
Der Präsident selbst tritt nach außen hin mit gemäßigten Tönen auf. Er zähle darauf, dass die russische Staatsanwaltschaft alles tun werde, um die Verbrecher nach den Vorgaben des Gesetzes zu bestrafen. Leonid Wolkow, ein Vertrauter des kürzlich im Straflager gestorbenen Kremlgegners Alexej Nawalny, warnt, sich davon täuschen zu lassen. Er schreibt im Nachrichtendienst Telegram: „Die öffentliche Demonstration der Folterung von Verdächtigen ist natürlich eine klare Erfüllung von Anweisungen von oben.“ Auch er glaubt: Die Misshandlung sei ein Versuch, „den Fokus der Aufmerksamkeit weg von der Ohnmacht und dem Versagen der russischen Sicherheitsdienste zu lenken, die zwar Regenbogenohrringe aus einem Kilometer Entfernung sehen, aber nicht ein Auto mit schwer bewaffneten Terroristen“. Wolkow spielt damit auf die Entscheidung des Kremls an, die sogenannte LGBTQ-Bewegung als „extremistisch“ einzustufen. „Putin sagt den Russen in den ersten Tagen seiner fünften Amtszeit: ,Ich habe bereits Drähte an eure Genitalien angeschlossen‘", schreibt Wolkow.
Das russische System setzt immer wieder auf ein Klima der Angst, um seine Macht durchzusetzen. Erst vor wenigen Tagen veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Bericht, in dem Russland schwere Verstöße gegen die Menschenrechte vorgeworfen wird. Der UNO-Menschenrechtsrat schilderte die Folterung ukrainischer Kriegsgefangener in mehreren Hafteinrichtungen in Russland.
„So wie Russland nach außen seit über zwei Jahren mit unverhohlener Gewalt bis zu Kriegsverbrechen auftritt, tritt es seinen Gegnern nun auch im Inneren offen gewalttätig entgegen“, sagt der Politikwissenschaftler Jäger. „Für Putin sind die gewaltsame Erweiterung Russlands nach außen und die ,Reinigung‘ im Innern von Kritikern und ,Verrätern‘ zwei Seiten derselben Medaille.“ Dass Putin selbst die Warnungen aus den USA, die vor der Tat auf einen möglichen Anschlag aufmerksam gemacht hatten, verhöhnt habe, werde ihm in Russland niemand vorwerfen. „Weil jetzt jeder auch offen vorgeführt bekam, wie die Dienste mit diesen Menschen umgehen“, so Jäger.