Das Wetter passt ein bisschen zu dem, was Alexander Breunig gleich erzählen wird. Der Vorsitzende des Sportvereins Wulfertshausen, nicht weit von Friedberg entfernt, steht an diesem Märznachmittag auf dem Fußballplatz seines Vereins, ein eisiger Wind zerrt an den Grashalmen und Breunigs Jacke. Mit stürmischen Zeiten kennt Breunig– kurze graue Haare, Brille, Bart – sich aus. Denn die vergangenen drei Jahre waren nicht leicht. Erst fegte die Pandemie wie ein Orkan durchs Land, danach kamen Inflation und Energiekrise. Harte Zeiten. Mit viel Gegenwind. "Große Sprünge sind im Moment nicht drin", sagt Breunig. Das Geld ist knapp, die Renovierung des in die Jahre gekommenen Sportheims muss erst einmal warten. Eine neue Flutlichtanlage kann nur durch einen kreativen Kniff finanziert werden, Breunig wird es später erklären. "Allein könnten wir das nicht schultern", sagt der Vereinsvorsitzende.
So oder so ähnlich geht es derzeit vielen Vereinen im ganzen Land. Gleich mehrere Studien kommen zu dem Schluss, dass die Nachwehen der Pandemie und die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine viel durcheinanderwirbeln. Eben nicht nur auf der großen Bühne der Weltpolitik, sondern auch draußen auf dem Land, in kleinen Dörfern wie Wulfertshausen.
Mitgliedsbeiträge müssten im Schnitt um knapp die Hälfte steigen
In einer Umfrage des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) aus dem vergangenen Herbst etwa wird deutlich: Um die Mehrkosten durch die steigenden Energiepreise zu decken, müssten die Mitgliedsbeiträge im Durchschnitt um 44 Prozent angehoben werden – dann aber würden möglicherweise viele Mitglieder kündigen. Ein Teufelskreis.
All das passiert in einer ohnehin schwierigen Gemengelage, in Zeiten also, in denen den Vereinen bereits Aktive und Passive fehlen. Eine eben erst veröffentlichte Studie der "Zivilgesellschaft in Zahlen", einer Tochtergesellschaft des Stifterverbands, zeigt: Die Einschränkungen der Corona-Pandemie haben in vielen Vereinen in Deutschland die Mitgliederzahlen schrumpfen lassen. 21 Prozent der von der Gesellschaft befragten Organisationen berichteten von einem Rückgang bei der Zahl der Engagierten, bei den Sportvereinen waren es sogar 27 Prozent. Und kaum, dass die eine Krise abebbte, wurde die nächste angespült.
"Wir haben es zum Glück geschafft, unsere Mitgliederzahl einigermaßen konstant zu halten", sagt Breunig und geht am Spielfeldrand entlang, nach hinten zur Flutlichtanlage. "Aber ich habe Kollegen in anderen Vereinen, die 30 Prozent verloren haben. Das muss man sich mal vorstellen." Breunig bleibt vor einem großen Mast stehen. "Der hier hat Probleme mit der Statik", sagt er. Dann deutet er auf die andere Seite des Feldes. "Der auch." Also muss die ganze Anlage erneuert werden. Kosten für vier Masten: 32.000 Euro. 65 Prozent davon werden gefördert, den Rest muss der Verein auftreiben. Bei der aktuell knappen Kassen-Situation, in der Breunig Heizöl für 80 statt wie früher für 25 Cent pro Liter kaufen muss, ist das aber problematisch. Deswegen haben die Fußballer ein Crowdfunding gestartet, eine Art Schwarmfinanzierung, an der sich viele Menschen beteiligen, um einer Sache zum Erfolg zu verhelfen. Mit 5000 Euro hatten die Fußballer geplant, am Ende kamen knapp 12.000 zusammen. "Das ist für uns natürlich super. Und auch, dass die Förderungen für Vereine vom Freistaat verdoppelt wurden." So düster wie die Wolken, die vom Wind über den Himmel geschoben werden, ist die Lage in Wulfertshausen derzeit also nicht. Gespart werden muss aber trotzdem. "Wir haben die Heizungen schon runtergedreht", sagt Breunig.
Wie hat sich das Freizeitverhalten der Deutschen verändert?
Auch wenn die Veränderungen, die in den vergangenen drei Jahren wie ein Platzregen auf die Vereine niedergingen, enorm sind – Wandel gab es schon immer. Professor Ulrich Reinhardt, Wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg, beschäftigt sich seit Jahren damit, wie sich Vereine verändern. Die Stiftung analysiert seit vier Jahrzehnten in einem jährlichen Monitor das Freizeitverhalten der Deutschen. Und dabei zeigt sich: Bereits vor Corona war vielerorts eine rückläufige Tendenz zu beobachten. "In den 70er Jahren hat man ja immer gesagt: Jeder Deutsche ist Mitglied in zwei Vereinen. Das hat sich über die Jahrzehnte immer weiter reduziert", sagt Reinhardt. Die Corona-Pandemie sei dann für die Vereine eine Zäsur gewesen, viele konnten gar kein Angebot mehr vorhalten. Einige versuchten, ihr Programm zumindest online anzubieten – was nicht immer wirklich gut funktioniert habe. "Denn das war natürlich nicht das, was die Vereinskultur ausmacht", sagt Reinhardt. "Die Zahlen waren da also weiter rückläufig – und irgendwann hat bei vielen Vereinen das Geld gefehlt." Jetzt sehe man indes wieder das Gegenteil: Viele Menschen kehren in die Vereine zurück. Nach den Entbehrungen, die die Pandemie mit sich brachte, spielen Gemeinschaft und Geselligkeit wieder eine größere Rolle.
Nicht nur zwischen der Vor- und der Nach-Corona-Zeit gibt es Unterschiede. Auch zwischen Stadt und Land. Das Angebot an Vereinen sei in der Stadt größer. Auf dem Land würden sie aber viel mehr angenommen, weil sie eine ganz andere Funktion erfüllten. In der Stadt gehe man in einen Verein, um eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. "Da steht die Aktivität klar im Vordergrund", sagt Reinhardt. Bei kleineren Orten hätten Vereine indes mehr eine Gemeinschaftsfunktion. "Es geht eben nicht nur darum, zwei Stunden zum Handballtraining zu gehen, sondern auch darum, danach noch zusammen ein Bier zu trinken."
Viele Vereine kämpfen um junge, ehrenamtliche Mitarbeiter
Reinhardt glaubt, dass die Vereine künftig vor großen Herausforderungen stehen werden. Vor allem, was die Gewinnung von ehrenamtlichen Mitarbeitern angeht. "Ich halte das Wort Ehrenamt in der Vereinslandschaft für kontraproduktiv", sagt Reinhardt. Das Appellieren an die Ehre zöge bei jungen Menschen nicht, stattdessen müsste man Wege finden, die Mitarbeit im Verein attraktiver zu gestalten. "Zum Beispiel dadurch, dass sich das positiv auf die Rente auswirkt. Man müsste da groß denken, denn die Vereinskultur ist für unsere Gesellschaft etwas ganz Entscheidendes."
Dass ein Verein so etwas wie ein Kitt fürs soziale Leben in einer Gemeinde ist, weiß auch Alexander Breunig vom SV Wulfertshausen. Wie sehr das für seinen Verein zutrifft, zeigen schon die Zahlen: Mehr als 800 Mitglieder gibt es – und das in einem Ort, der gerade einmal rund 2400 Einwohner hat. Dennoch: Längst sei es nicht mehr selbstverständlich, Ehrenamtliche zu finden, die sich etwa um den Sportplatz kümmern. "Mittlerweile wird der Platzwart bezahlt", sagt Breunig. "Das ist wieder ein Kostenpunkt mehr." Dann deutet er an die Spielfeldbande, auf der mehrere regionale Unternehmen werben. "Wir sind nun mal kein riesengroßer Verein, der lukrative Werbeverträge mit großen Sportmarken schließen kann", sagt er dann.
Jenseits aller Belastungen zeigt die Studie der "Zivilgesellschaft in Zahlen" noch etwas anderes. Etwas, das durchaus überrascht: Trotz aller Probleme und sinkender Mitgliederzahlen werden auch weiterhin neue Vereine gegründet. In Bayern waren 2022 mehr als 93.200 Vereine eingetragen – das ist ein Plus von zehn Prozent im Vergleich zu 2012. Allerdings muss man festhalten: In anderen Bundesländern ist der Trend ein völlig anderer. Thüringen etwa verzeichnete einen Rückgang von 7,8 Prozent. Und auch, wenn es in einigen Ländern mehr Vereine als noch vor zehn Jahren gibt, ist die Gründungsdynamik grundsätzlich rückläufig. Es würden zwar noch neue Vereine gegründet – von Jahr zu Jahr aber weniger, heißt es in der Studie.
Trotz der Krisen haben sich in Bayern auch einige neue Vereine gegründet
Einen solchen neuen Verein gibt es im beschaulichen Sielenbach im Landkreis Aichach-Friedberg. Martin Lechner, 33 Jahre, schwarzer Kapuzenpulli, öffnet sein Garagentor und knipst das Licht an. Drinnen sieht es aus, wie es in Garagen eben so aussieht – aber eine Besonderheit gibt es. Rechts an der Wand steht ein altes goldenes Rennrad, "Peugeot" ist in grüner Schrift darauf zu lesen. Das Rad stammt aus den 70er Jahren, hat viele Kilometer auf dem Sattel. "Damit hat alles angefangen", sagt Lechner.
Das Fahrrad kaufte er sich zu Beginn der Pandemie, als es wegen des Lockdowns wenig zu tun gab, viele Vereine ihr Angebot auf Eis legen mussten. "Nur im Haus sitzen bringt ja nichts", sagt Lechner und zuckt mit den Schultern. Gemeinsam mit ein paar Freunden kam er auf die Idee, einen Fahrradverein zu gründen. Mitten in der Pandemie, also in einer Zeit, wo viele Vereine vor großen Problemen standen. Doch der Mut wurde belohnt: Mittlerweile hat der Verein 50 Mitglieder, die regelmäßig gemeinsam Fahrrad fahren – manchmal sind es nur kleine Runden, manchmal radeln sie bis an den Gardasee.
Bereits im frühen 20. Jahrhundert gab es in Sielenbach einen Radverein. "Frisch auf Concordia" hieß er – den Namen trägt auch der neue Verein. Dass das so ist, ist ein bisschen dem Zufall zu verdanken. Denn genau in jener Zeit, in der die Freunde in Sielenbachüber die Gründung eines Radvereins nachdachten, kam die Gemeindechronik heraus – und eben da erfuhren sie, dass das Radfahren in Sielenbach eine lange Geschichte hat.
Die Chronik, ein für ein so kleines Dorf ziemlich dickes Buch, auf dem die berühmte Wallfahrtskirche Maria Birnbaum zu sehen ist, liegt auf dem Küchentisch von Martin Lechner, an dem er gemeinsam mit seinem Rad-Kumpel Benedikt Huber Platz nimmt. Auf Seite 557 gibt es ein Schwarz-Weiß-Foto des damaligen Vereins. "Früher durften nur Männer mitfahren. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen", sagt Huber, kurze blonde Haare, weißes T-Shirt, auf dem das Logo des Vereins zu sehen ist. "Der historische Verein existierte bis 1933. Dann war es vorbei", fährt Huber fort. Übrig geblieben ist noch die alte Fahne. "Wir führen die Tradition jetzt weiter", sagt Huber. Große Pläne gibt es durchaus: Noch in diesem Jahr soll ein altes Schlachthaus renoviert und in ein Vereinsheim umgewandelt werden. Zum Reden übers Radeln, zum Zusammensitzen und um ab und zu gemeinsam was zu trinken.
Seit dem 19. Jahrhundert gibt es bereits ein vergleichbares Vereinswesen
Dass sich Menschen zusammenschließen, Geselligkeit leben, Vereine gründen, ist, wie das Sielenbacher Beispiel zeigt, nichts Neues. Die Wurzeln des Vereinswesens reichen lange zurück. Seit dem 19. Jahrhundert gebe es ein Vereinswesen, das wie heute in einem rechtlichen Gefüge angesiedelt ist, sagt Günther Kronenbitter, Professor für Europäische Ethnologie an der Universität Augsburg. "Aber im Wort Verein steckt natürlich die Bedeutung, dass sich Menschen für ein bestimmtes Anliegen zusammenschließen. Und wenn man diesen erweiterten Begriff hernimmt, dann kann man in der Geschichte noch sehr viel weiter zurückgehen, in Europa bis ins Mittelalter", sagt Kronenbitter. Gilden und Zünfte seien damals Vereinigungen gewesen, die einerseits einen wirtschaftlichen Zweck verfolgten, aber auch ideelle Ziele und Geselligkeit im Blick gehabt hätten. "Denken Sie auch an die Knappschaften, die im Prinzip so etwas wie soziale Sicherungssysteme für die Bergleute waren." Im 19. Jahrhundert sei der wirtschaftliche Aspekt immer mehr zum Tragen gekommen, es hätten sich etwa Sparvereine gegründet. "Das Wort Vereinsbank geht noch darauf zurück", sagt Kronenbitter. Später seien Vereine dann mehr und mehr zu politischen Gruppen geworden, in denen bestimmte gesellschaftliche Ziele diskutiert worden seien und sich die Menschen für deren Durchsetzung engagiert hätten.
Was sich im Grundsatz verändert habe, sei die gesellschaftliche Verankerung der Vereine, sagt Kronenbitter. Heute gehe es im Vergleich zur Vormoderne vor allem um das Individuum. "Wir bestimmen über unsere Zeit, darüber, was uns wichtig ist, etwa Gemeinsamkeit. Dahinter steht immer die Idee, dass es eine freie Entscheidung des Individuums ist, zu sagen: Ich mach’ da mit. Das ist ja auch die Krise des Vereinswesens heute, dass sich viele jüngere Menschen nicht mehr so festlegen wollen."
Dass sich jüngere Menschen nicht unbedingt an einen Verein binden wollen, dieses Problem kennen viele Vereine, von der Feuerwehr bis zur Blaskapelle. Auch Alexander Breunig vom SV Wulfertshausen weiß, dass sich die Gesellschaft wandelt und dass das natürlich auch die Vereine trifft. "Die jungen Menschen haben heute viel breiter aufgestellte Interessen und nicht nur ein Hobby", sagt Breunig und zieht das Tor zum Sportplatz hinter sich zu. "Deswegen ist es ja auch so wichtig, eine gute Jugendarbeit zu machen, und das geht nur mit einem guten Team", fährt er fort. "Ohne Jugendliche, die nachkommen, würden viele Vereine aussterben." Dann verabschiedet sich Breunig, geht am Sportheim vorbei, das renoviert werden muss. Irgendwann jedenfalls. Nicht jetzt. Nicht in diesen stürmischen Zeiten.