
Spötter würden das hier als Touristenglück bezeichnen. Eigentlich steht die Bummel-Bahn im ungarischen Felcsút im Winter still. Aber weil gerade die Schneeglöckchen blühen, so hört es der Besucher via Hotline, fährt sie ausnahmsweise auch jetzt für drei Wochen. Um exakt 12 Uhr tuckert die orangefarbene Lokomotive mit den beiden Retro-Waggons an diesem Tag an der Hauptstation los, wenn man die Plattform in dem knapp 2000-Seelen-Dorf so nennen will. Sie war am Fußballstadion gestartet und führt nun in ein Maisfeld, hinter dem ein botanischer Garten liegt.
Fünfmal am Tag zuckelt sie die insgesamt sechs Kilometer entlang. Und zurück. Ein Zug nach Nirgendwo, der nicht zufällig im Geburts- und Heimatort von Viktor Orbán verkehrt. Dort hat sich der ungarische Ministerpräsident schon einen riesigen Fußballtempel buchstäblich in den Vorgarten seines Häuschens bauen lassen. Beinahe ebenso erfreute er sich aber bei der Einweihung der Bahn 2016 an seinem neuen Spielzeug.
Nun ist der Nostalgie-Zug äußerst hübsch und im Innern warm dazu, ein Kachelofen heizt die Holzbänke. Über ihnen hängen sogar Gepäckablagen aus Messing. Nur scheinen sie meist leer zu bleiben. Wann hier das letzte Mal Touristen Platz genommen hätten, will man vom Fahrkarten-Kontrolleur wissen. Daran erinnere er sich im Moment auch nicht so genau, sagt der Herr und zuckt mit den Schultern.
Das ist zumindest auf dem Papier erstaunlich. Immerhin, so steht es im damaligen Antrag an die EU, sollten hier mehr als 2500 Menschen pro Tag befördert werden. Die Aussicht hatte die Geldgeber aus Brüsselüberzeugt, Stichwort Tourismusförderung. Eine Tafel neben der Bahnstrecke informiert darüber, dass die Europäische Union den Bau mit umgerechnet etwa zwei Millionen Euro unterstützt hat. Mitfinanziert ist auch der kleine See mit der Schwanenbrücke neben den Gleisen, Stichwort Naturschutz. Die EU hält dafür einen Sonderfonds bereit.
Die meisten Ungarn finden den Schuldigen bei der EU in Brüssel
Ákos Hadházy lacht auf, wenn er den Blick über die bemerkenswert unspektakuläre Landschaft schweifen lässt, auch wenn er das Ganze längst nicht mehr witzig findet. Der 49-Jährige gehört als parteiunabhängiger Oppositioneller dem ungarischen Parlament an und das Bild, das er von der politischen Klasse seines Landes zeichnet, ist von Frust geprägt. Das System sei „ein Franchise Russlands“. Hadházy versteht sich mittlerweile vor allem als Auf- und Erklärer all jener Fälle, bei denen Gelder in den Taschen von Orbáns Umfeld landeten oder in dunklen Kanälen versickerten. „Die Herausforderung besteht nicht mehr darin, Korruptionsbeispiele herauszufinden, sondern sie vielen Menschen aufzuzeigen“, sagt Hadházy. Die Propaganda-Maschinerie der Regierung sei schon so ausgebaut, „dass wir nicht genügend Leute erreichen“.
Die ächzen zwar unter der hohen Inflation und explodierenden Energiepreisen. Lehrerinnen und Lehrer fordern mehr Geld, Ärztinnen und Pfleger stehen unter Druck. Doch die Schuldigen finden die meisten Ungarnnicht in der nationalkonservativen Partei Fidesz, sondern in Brüssel– auch dank der von der Regierung kontrollierten Medien, die seit Orbáns erneuter Machtübernahme im Jahr 2010 vor allem das Lied von Fidesz singen.
Orbán schiebt wirtschaftliche Probleme auf EU-Sanktionen gegen Russland
Derzeit kleben in Budapest an den Litfaßsäulen und Häuserwänden überall Plakate, auf denen das Ergebnis von „nationalen Konsultationen“ steht, die Orbán durchführen ließ. „97 Prozent“, so heißt es da, sagten „NEIN“ zu den EU-Sanktionen gegen Russland. Auf die schiebt die ungarische Regierung hauptsächlich die wirtschaftlichen Probleme des Landes. Dass die Erhebungen laut Hadházy „absurde Fragestellungen“ enthielten, etwa nach dem Motto, ob die Bürger den Anstieg der Lebensmittelpreise wegen der Sanktionen befürworten – geschenkt.
An diesem Tag trifft Hadházy Daniel Freund, so etwas wie einen politischen Verbündeten. Der Grüne gehört im EU-Parlament dem Club der Umtriebigen in Sachen Rechtsstaatlichkeit an. Seit 2019 sitzt der 38-Jährige im Hohen Haus Europas, mit Korruption beschäftigt er sich schon länger. So hatte er zuvor für die Nichtregierungsorganisation Transparency International gearbeitet, die sich im Kampf gegen Korruption als weltweit führend rühmt.
Die EU-Behörde Olaf ermittelt seit Jahren zu Korruption in Ungarn
Für die ungarische Regierung war Freund lange vornehmlich nervig. Mittlerweile sind er und seine Kolleginnen und Kollegen für Orbán zu einer Bedrohung geworden. Denn es war eine Sache, dass die Abgeordneten Ungarn den Stempel eines „hybriden Systems der Wahlautokratie“ bescheinigten. Eine andere war der Beschluss der EU, Gelder einzufrieren.„Das ist ein Riesenerfolg, der auf das Parlament zurückgeht“, sagt Freund. Der jahrelange Druck auf die EU-Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten habe Wirkung gezeigt, „ein Umdenken ausgelöst“. Ende 2022 wandte die EU erstmals in ihrer Geschichte den Rechtsstaatsmechanismus an. Das Instrument erlaubt es der Union, Fördermittel zurückzuhalten, wenn die Gefahr besteht, das Geld könnte in einem Land missbräuchlich verwendet werden.
Olaf, die Antikorruptionsbehörde der EU, ermittelt seit Jahren zu Korruption und Vetternwirtschaft in Ungarn und machte auf etliche Beispiele aufmerksam. Da war der lukrative Zuschlag für die landesweite Ausstattung mit neuen Straßenlaternen, den eine Firma erhielt, in der der Schwiegersohn des Ministerpräsidenten saß. Traditionell für Furore sorgt auch der Sensationsaufstieg von Lőrinc Mészáros, der es während der Amtszeit seines alten Kumpels Orbán als Dauer-Partner von EU-finanzierten Projekten vom einfachen Gasinstallateur zum schillernden Milliardär gebracht hat.
EU hat Gelder für Ungarn eingefroren
Im Dezember einigten sich die Mitgliedstaaten dann darauf, 6,3 Milliarden Euro von für Budapest vorgesehenen Geldern einzufrieren. Das entspricht 55 Prozent der Mittel aus drei Programmen zur Förderung benachteiligter Regionen, die Ungarn bis 2027 zustehen. Dabei hatte Orbán alles versucht, um die Summen freizupressen. In Brüssel ging es zu wie auf einem Basar. Ein Ja aus Budapest zu neuen Sanktionen gegen Russland? Kostet. Kein Veto aus Ungarn gegen Budget-Hilfen für die Ukraine? Umsonst auch das nicht. Obwohl Orbán diese Spielchen sonst so gut wie kein anderer EU-Regierungschef spielt, hatte er sich dieses Mal verzockt. Am Ende entschied der völlig genervte Rest der Gemeinschaft das Kräftemessen für sich. Budapest mag 82 Prozent des ungarischen Anteils am EU-Aushalt ausgezahlt bekommen, 18 Prozent aber wurden ausgesetzt.
Zudem bleiben die Konjunkturmittel auf Eis gelegt. So wartet Orbán weiter auf Corona-Hilfen in Höhe von 5,8 Milliarden Euro. Die Überweisung der ersten Tranche ist an die Erfüllung von 27 „Super-Meilensteinen“ geknüpft, die die EU-Kommission definiert hat. Es handelt sich um Maßnahmen, mit denen die Regierung die weitverbreitete systemische Korruption bekämpfen und die Unabhängigkeit der Justiz wiederherstellen soll. Sobald die Meilensteine nach Einschätzung der Brüsseler Behörde erfüllt sind, werden automatisch auch die eingefrorenen sogenannten Kohäsionsmittel wieder frei.
Orbán setzte eine Arbeitsgruppe zur Korruptionsbekämpfung ein
Und die Führung hat reagiert, zumindest ein wenig. So setzte Budapestwie verlangt eine Arbeitsgruppe zur Korruptionsbekämpfung ein, die die ebenfalls neu geschaffene Anti-Korruptions-Behörde beraten soll. Tatsächlich braucht Orbán das Geld. Die Profiteure des Systems müssen zufriedengestellt, die Wähler mit einer wachsenden Wirtschaftüberzeugt werden. „Was für Wladimir Putin das Öl ist, sind die EU-Subventionen für Orbán“, sagt Oppositionspolitiker Hadházy. Noch sind die Auswirkungen bis auf nervöse Märkte und teure Kredite kaum zu spüren. Umso mehr appelliert er an Brüssel, nicht einzuknicken. Dass die Kommission weiterhin den Geldhebel nutzt und nicht „bei der ersten kleinen Scheinreform“ nachgibt, hofft auch Freund. „Das Werkzeug des Geldeinfrierens wirkt, es bewegt sich etwas“, so der Grüne. „Selbst wenn der Angriff auf den Rechtsstaat langsamer läuft, bedeutet das eine Verbesserung der Situation.“
Gábor Iványi rollt die Augen, wenn er von angeblichen Reformen hört. „Sie“, sagt der 72-Jährige mit ruhig vorgetragener Verächtlichkeit und er meint mit „sie“ die Regierung, „betrügen und geben nur vor, zu tun, was die EU fordert.“ Der methodistische Pastor predigt vornehmlich das Christentum und Nächstenliebe, aber seit vielen Jahren auch die Vorteile der EU. Damit hat er sich zu einem Kontrahenten von Orbán entwickelt. Für den hat er kein gutes Wort mehr übrig. „Er lügt selbst, wenn er eine Frage stellt.“
"Orbán hat alles Schlechte der letzten 100 Jahre zurückgebracht"
Der Ungar trägt einen weißen Bart, braunes Sakko und ein mildes Lächeln. In seinem Büro im 8. Budapester Stadtbezirk stapeln sich in jeder Ecke und jedem Karton Bücher, auf dem Tisch steht ein Teller mit ungarischen Butterpogatschen, einem Salzgebäck. An der Wand hängt ein Gruß von Königin Elizabeth II., die er einmal in Budapest getroffen hat. Während ihn alle möglichen Stimmen für sein Engagement für Obdachlose, Arme und sozial Schwache loben, wird er von der Regierung „schikaniert“, wie Iványi es nennt.
Er schlägt die Beine übereinander und legt die gefalteten Hände in den Schoß. „Korruption, Rechtsbruch, Diktatur – Orbán hat alles Schlechte der letzten 100 Jahre zurückgebracht“, sagt er. Dabei hat Iványi als Ex-Politiker und Abgeordneter die Wandlung Orbáns vom liberalen Hoffnungsträger zum autokratischen Nationalisten eng verfolgt. Die beiden Männer kennen sich seit den 80er Jahren, Iványi hat Orbán kirchlich getraut und dessen beide ältesten Kinder getauft. Doch mit dem Machthunger des Opportunisten Orbán kam der Bruch.
Und plötzlich steht da der Vater von Viktor Orbán, Gyözö
Heute dreht sich der Geistliche ab, wenn er „die widerwärtigen Kampagnenslogans gegen die EU“ liest. Deshalb befürwortet er auch die Milliarden-weg-Antwort der Gemeinschaft. Mehr noch, sie gebe ihm etwas Hoffnung. „Es spielt keine Rolle, wenn die Menschen leiden“, sagt er, obwohl ihn der Gedanke schmerzt. „Die Leute müssen den Unterschied spüren.“ Und die Verbindung herstellen zwischen Orbáns Aktivitäten und dem gestoppten Geldfluss aus Brüssel. Diesen Link lässt der Ministerpräsident gerne unter den Tisch fallen, er konzentriert sich auf verbale Attacken gen Brüssel. „Die EU muss aktiver kommunizieren, wer schuld daran ist, dass es kein Geld gibt“, fordert auch Daniel Freund.
Bevor dieser zurück nach Brüssel reist, nimmt Ákos Hadházy den Mann aus Aachen noch zu einem kleinen Abstecher mit. Der Steinbruch von Viktor Orbáns Vater Gyözö, er befindet sich ebenfalls in der Gegend. Dort geht es an diesem Nachmittag geschäftig zu. Ein Lastwagen nach dem anderen biegt in die Einfahrt zum Kieswerk ab, voll beladene Lkw verlassen das Gelände. Hadházy lacht schon wieder auf. Das Werk liefere fast ausnahmslos die Baumaterialien für öffentliche wie auch EU-geförderte Projekte, erklärt er. „Im Grunde muss Orbán bei Bau-Ausschreibungen gar nicht mehr betrügen, weil ihm alle Firmen gehören, die sich bewerben könnten“, sagt Freund. Nach zehn Minuten erscheint plötzlich ein älterer Ungar, flankiert von einem Mann, Typ Türsteher, und droht damit, die Polizei zu rufen. Es ist Gyözö Orbán.