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New York
Vor New York stehen schon seit fast zehn Jahren die Russen
In der Ukraine gibt es eine Kleinstadt, die New York heißt. Die Kämpfe seit der russischen Invasion 2022 haben selbst die Standfesten vertrieben. Aber nicht alle.
Till Mayer
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:08 Uhr

Die russische Armee steht schon kurz vor New York. Keine vier Kilometer sind es vom Stadtrand zur Front. Doch bislang halten die gegnerischen Schützengräben. So bleibt die Kleinstadt in der Region Donezk in ukrainischer Hand. Seit 2014 wird vor New York gekämpft. Der groß angelegte Angriff Russlands auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 hat die „Siedlung mit städtischem Charakter“, so die offizielle Bezeichnung, in eine Geisterstadt verwandelt.

Eine russische Besatzung, für Victoria wäre das die Katastrophe. „New York ist ukrainisch“, sagt sie. Im Hintergrund wummert die Artillerie. Setzt sie für längere Zeit aus, hört Victoria erst recht genau hin. Es muss nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein für das, was dann folgen kann. Erst vor gut zwei Wochen schlug wieder eine russische Rakete ein, ein Flugzeug warf Bomben. Unter anderem ein dreistöckiges Wohnhaus bestand danach nur noch aus Trümmern. Eine Ruine mehr in dieser Gegend.

New York erhielt 2021 seine ursprüngliche Bezeichnung zurück

Seit 2014 ist das hier eine Frontstadt. Für kurze Zeit, von Mai bis Juli 2014, stand sie unter der Kontrolle russischer und prorussischer Verbände. Der Krieg vor der Stadt wurde in den fast zehn Jahren für die Bewohnerinnen und Bewohner zum Alltag. Rund 10.000 Menschen mussten lernen, mit ihm zu leben. So wie mit dem neuen beziehungsweise alten Namen. New York – manche schreiben auch Niu-York – erhielt 2021 seine ursprüngliche Bezeichnung zurück. Die Sowjets hatten es 1951 in Novhorodske (Neue Stadt) umgetauft. „New York“, das klang allzu sehr nach Klassenfeind.

Woher der Name New York stammt, weiß keiner so recht. Waren es Verbindungen eines Geschäftsmanns in die Millionenmetropole an der Ostküste der USA? Oder stammt der Name von den deutschstämmigen Mennoniten: „Neu Jork“? Ging beim Übertrag vom lateinischen ins kyrillische Alphabet etwas schief? „Die deutschen Siedler hatten hier Ende des 19. Jahrhunderts eine Fabrik gegründet, eine Ziegelbrennerei und eine Mühle“, erzählt Victoria. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es elektrischen Strom, ein Hotel, einen Buchladen, eine Bank, ein Telegrafenamt und je eine Schule für Jungen und Mädchen. New York boomte mit der Industrialisierung. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die deutschstämmigen Bewohner unter Stalin deportiert – die meisten weit in den Osten der Sowjetunion, in den Oblast Amur, Tausende Kilometer entfernt.

An die deutschen Siedler erinnert das Haus, in dem Victoria wohnt. „Sehr solide gebaut. Für mich ein wichtiges Stück Geschichte unserer Stadt. Ich denke oft an die Menschen, die hier einmal gelebt haben“, sagt die 65-Jährige. Sie steht am Gartenzaun. Im Hintergrund ist das einfache und einstöckige Haus aus roten Vollziegeln zu sehen. Drum herum viel Wiese und kahle Obstbäume, deren schwarze Äste in den klaren Winterhimmel ragen. Daneben die Reste einer Mauer, Trümmer eines ehemaligen Stalls und verkohlte Holzbalken. Das Nachbarhaus stammte ebenfalls von Deutschstämmigen. Als am 9. Mai 2022 auf dem Roten Platz in Moskau die obligatorischen Panzer über Pflaster und Asphalt zur Siegesparade ratterten, schlug hier eine russische Granate ein.

Eine Druckwelle ließ die Fenster im „deutschen Haus“ bersten

„Die Nachbarn waren zum Glück nicht im Haus. Aber dem Hund hat die Explosion den Kopf abgerissen. Es war furchtbar. Der Beschuss war bei Weitem nicht der einzige“, berichtet Victoria. Sie erzählt davon, wie Wände wackelten und Fenster vibrierten, als Granaten im Umkreis einschlugen. Wie sie einmal auf allen vieren kroch, als der Ort unter Beschuss war.

Victoria liebt Hunde, sie hat zwei. Bijm ist ein mittelgroßer weißer Mischling, der gerne die dunkle Gartenerde auf Hosen verteilt, wenn er Menschen freudig anspringt. Susha ist der ruhige Gegenpol mit Schäferhund-Genen. „Kommen Sie“, sagt Victoria, und es geht auf einen kurzen Spaziergang. Die Hunde freuen sich über den Auslauf.

Es geht vorbei an zwei weiteren Ruinen, an Hauswänden, die Schrapnelle gezeichnet haben, bis zu einem im Vergleich imposanten Gebäude, in dunklem Weinrot gestrichen. Das „deutsche Haus“ nennt es Victoria. Aaron Thiessen hat es 1910 als Konsumgebäude erbauen lassen, heißt es auf einer schwarzen Granitplatte neben den beiden Flügeln einer grauen Stahltüre. Die hängen verriegelt, aber nicht mehr so ganz gerade im Rahmen. Daneben, links und rechts, sowie im Stockwerk darüber blicken Fensterhöhlen mit zersplittertem Glas auf die Straße. Gegenüber stehen ein altes Fabrikgebäude und die ehemalige Mühle. Sie haben Treffer abbekommen, die Druckwelle ließ die Fenster im „deutschen Haus“ bersten.

„Es war 2019 so schön zum Kulturzentrum umgebaut worden, dann begann die Invasion“, sagt Victoria. Das Gebäude hätte für mehrere Leben stehen sollen. Leuchtend frisch gestrichen in einer grauen Zone zwischen Frieden und Krieg. Von 2014 bis 2021 starben 16 Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt durch Beschuss, mehr als 100 Häuser wurden schon vor der großen Invasion 2022 beschädigt. „Trotzdem sind die meisten Menschen geblieben“, sagt Victoria. 2021 machte das ukrainische New York von sich reden. „Es gab ein großes Literaturfestival.“ Schriftstellerin Victoria Amelia hatte es ins Leben gerufen. Sie starb am 27. Juli 2023 in Kramatorsk durch den Einschlag einer russischen Iskender-Rakete. Das Zentrum des Festivals in New York wiederum wurde durch Beschuss schwer beschädigt.

Heute ist das ukrainische New York eine gespenstisch leere Stadt

„So schnell wird es wohl kein Festival mehr geben“, seufzt Victoria. Heute ist New York eine gespenstisch leere Stadt. Fast 90 Prozent der Menschen dürften ab Ende Februar 2022 Richtung westliche ukrainische Gebiete oder ins Ausland geflohen sein. Die Versorgung mit Strom und Wasser ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Ein Sohn von Victoria lebt seit Jahren in Schweden. „Zum Glück, das hier ist nichts mehr für die Jugend“, findet die Frau. Sie ist froh, dass er die mageren Renten von ihr und ihrem Mann mit Überweisungen ein wenig aufbessert. „Mit dem, was wir im Garten anpflanzen, kommen wir dann klar. Ich will bleiben. Hier ist mein Haus und meine Heimat.“

Eines Tages, nach dem Krieg, könnte New York auch als Filmkulisse für die Sowjetzeit dienen. Kaum Reklame, graue, gemauerte Wohnblocks, mindestens 60 oder 70 Jahre alt. Bis auf die Geräusche des Krieges herrscht eine bedrückende Stille. Es gibt noch Lebensmittelläden in der Stadt. Auch Victoria hat früher in einem Geschäft gearbeitet. „Es gab alles, vom Fahrrad bis zum Fernseher“, sagt sie lachend. Das Geschäft ist schon lange Vergangenheit. Jetzt kann ein Einkauf im Tante-Emma-Laden im oberen Teil der Stadt mit einem handfesten Streit enden. „Einige sind immer noch für die Russen. Ich sage ihnen: ,Seid ihr denn verrückt? Sie beschießen uns jetzt schon seit zehn Jahren.’“ Victoria schüttelt verärgert den Kopf. „Aber immerhin können wir uns gegenseitig sagen, was wir wollen. Das ist Freiheit, die es in Russland nicht gibt“, sagt Victoria und verabschiedet sich.

Galina hätte vermutlich wenig Lust auf Streitgespräche. Ihr fehlt die Kraft dazu. Der Weg zu ihr führt an einer verlassenen Tankstelle vorbei, dann an der ebenfalls verlassenen Ethanol-Fabrik, über eine Brücke. Irgendwo steht dann ein kleines, windschiefes Häuschen. Hier lebt die 73-Jährige. Das Leben hat es nie allzu gut mit ihr gemeint. Sie arbeitete zu Sowjetzeiten in einem Chemie-Kombinat. Die Dämpfe fraßen sich in ihre Lunge, mit 45 war sie schon nicht mehr arbeitsfähig und Frührentnerin. Sie muss schnell nach Luft ringen, wenn sie ihrem Körper zu viel zumutet.

Dann ist ein Flugzeug zu hören. Es wirft Bomben über Donezk ab

Mit den wenigen Ersparnissen kaufte sie sich die kleine Ein-Zimmer-Kate in New York. „Ich stamme aus Russland. Aber von meiner Familie lebt niemand mehr. Kinder habe ich keine. Hier in New York ging es mir gut, auch wenn ich nicht viel hatte“, sagt die Rentnerin. „Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass es diesen furchtbaren Krieg gibt“, fügt sie hinzu. Vielleicht hat sie sich deswegen gerade dem Glauben in einer protestantischen Kirche zugewandt. „Es ist nicht Gottes Wille, dass so viele unschuldige Menschen sterben müssen. Ich bete jeden Tag, dass es damit vorbei ist. Dass endlich Frieden kommt“, sagt sie. Dann füttert sie ihre Katzen. 17 Tiere versorgt sie. „Das sind so gute und unschuldige Wesen“, meint sie und nimmt gleich zwei Vierbeiner in den Arm.

Der Blick von ihrem Häuschen führt direkt zu einer Anhöhe mit dem alten Friedhof. Ein Grabdenkmal aus Granit erinnert dort zwischen halb überwachsenen Gräbern an Maria Janzen, eine deutsche Siedlerin, die 1905 beerdigt wurde. In der Nachbarschaft hält ein schimmernder Rotarmist Wache auf dem Kriegerdenkmal. Der Ausblick reicht über New York bis nach Horliwka, das unter russischer Kontrolle ist, und nach Torezk, das die Ukrainer halten.

Dann die Geräusche eines Flugzeugs. Es wirft Bomben ab. Eine schwarze Rauchwolke steigt von der Front her auf. Der Pilot nimmt Kurs auf das nahe Torezk. Ein gewaltiger Schlag ist zu hören, als in der Stadt ein Wohnblock getroffen wird. Vier Verletzte, heißt es später. Eine riesige Rauchwolke steigt auf. Vermutlich werden Victoria und Galina kurz gelauscht haben, als die Bomben detonierten.

In New York, Oblast Donezk, keine vier Kilometer von der Front, ein Tag wie jeder andere.

 
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