Vasyl blinzelt in die Sonne und blickt über seinen Garten. Bunte Holzkisten stehen in der Wiese, Bienenstöcke mit viel Insektenflug. Es brummt und summt. Am Ende des Gartens folgen niedrige Büsche, wildes, hohes Gras. Der Panzer darin steht rostbraun im satten Grün. Ein ausgebrannter Koloss aus Stahl, seine Ketten haben sich gelöst. Hinter ihm ragt das Nachbarhaus auf. Oder besser gesagt, was davon übrig ist. Dunkle Fensterhöhlen glotzen hässlich zwischen weißen Ziegelsteinen auf die staubige Dorfstraße. Vom Dach sind nur noch Holzverstrebungen übrig.
Vasyl drängt mit einer Handbewegung zwei, drei Bienen zurück, die um seinen Kopf schwirren. „Sie sind heute aufgeregt“, murmelt er und läuft in sein Haus.
Vorbei an leeren Munitionskisten für Artillerie-Granaten, die er im kleinen Hof aufgestapelt hat. Daneben lehnt ein Plastikfass an der Wand, es ist mit Regenwasser gefüllt. „Im Dorf gibt es weder Strom noch Wasser“, erklärt er, als er sich am Fass vorbeischiebt. Durch die Tür geht es in das dämmrige Innere. Das Dach hat die Druckwelle nach einer Explosion in der Nachbarschaft abgedeckt. Mit weißen Plastikplanen und Holzleisten hat der 62-Jährige zumindest einen Schutz vor Regen auf die Dachbalken genagelt.
„Wir haben Glück gehabt, unser Haus ist mit am wenigsten im ganzen Ort beschädigt“, erklärt Vasyl in der Wohnküche. An dicken Schnüren hängt die Wäsche zum Trocknen. An der Wand sind Risse zu sehen. Und ein Loch, das ein Geschoss hinterließ, das schnurstracks durch das Haus flog. „Ein Wunder, dass die Granate nicht explodiert ist“, meint Vasyl. In der Küche leben Vasyl und seine Frau Iryna. Es ist der einzige derzeit bewohnbare Raum. Könnte man durch das Küchenfenster sehen, wäre es ein Ausblick auf Ruinen. Von manchen stehen nur noch die Mauern, zerborstenes Glas hängt in den Fensterrahmen. Bei Vasyl spannt sich eine milchige Plastikplane als Scheibenersatz. In seiner Küche steht ein kleiner Kanonenofen, den er von einer Hilfsorganisation bekommen hat. „Meine Apfelbäume hat ein russischer Panzer zerstört. Das Holz habe ich im Winter verbrannt“, erklärt er. Er hat Bretter aus Schutthaufen gezogen, hölzerne Munitionskisten kleingehackt. Dass die Suche nach Brennbarem gefährlich ist, weiß der 62-Jährige zu gut.
Russische Truppen flohen nach ukrainischer Gegenoffensive
Als die russischen Truppen vor der ukrainischen Gegenoffensive im September 2022 überstürzt aus dem Raum Isjum flohen, hinterließen sie in Kamjanka nicht nur ein völlig verlassenes Dorf in Trümmern. Sie verminten es flächendeckend. Jeder Quadratmeter abseits der Dorfstraßen gilt als ein potenzielles Minenfeld. Allein 42 Landminen hat Vasyl nach eignen Angaben im Garten seines Anwesens entdeckt. Dort, wo gerade die Bienen summen. „Die Russen haben die Landminen scharf gemacht und ins Gras gelegt“, berichtet der 62-Jährige. Vasyl steckte Äste mit kleinen Stofffetzen zur Markierung neben die Sprengsätze. Das war im Herbst 2022. „Dann habe ich die Hotline der Armee angerufen. Sie kamen, haben sie entschärft und mitgenommen." Aber mehr könnten sie im Augenblick nicht tun. „Es sind zu viele Minen, zu viele Blindgänger an so vielen Orten der Ukraine“, sagt er.
„Schauen Sie sich doch um, nur Zerstörung. Überall Minen. Die russische Armee hat mit Artillerie und Fliegern das Dorf im März 2022 mit Dauerbeschuss überzogen. Überall liegen also auch Blindgänger. Dazu kommen noch die Sprengfallen, die die Besatzer selbst gebastelt haben. Manchmal denke ich, am besten man zieht einen Zaun um unser Dorf und baut es woanders wieder auf“, sagt Vasyl leise. Der Rentner floh Mitte März 2022 vor den Granaten und Bomben der heranrückenden russischen Armee zu Verwandten in den Oblast Lwiw. Seine Frau ging einige Tage vorher und fand bei Verwandten in Israel Zuflucht. Im September, nach der Befreiung, kamen sie nach Kamyanka zurück. Oder zu dem, was von der Siedlung noch übrig war.
Im Obergeschoss hatten russische Soldaten ihre Notdurft verrichtet
Das Dach ihres Hauses war weitgehend abgedeckt. Im Obergeschoss hatten russische Soldaten regelmäßig ihre Notdurft verrichtet. „Wie sie hier gehaust haben, unfassbar. Meine Schallplatten-Sammlung zertrümmert, die Scheiben haben sie kreuz und quer rings um das Haus geworfen. Einige habe ich auf der Straße gefunden. Es hat ihnen offensichtlich Spaß gemacht zu zerstören.“. Vasyl schüttelt den Kopf. Seine Platten von Metallica, Guns'n'Roses und den Scorpions liegen jetzt im Umkreis im tiefen Gras. Zu gefährlich, sie zu holen. „Und sie werden eh kaputt sein“, fügt er hinzu. Dann führt er in den Garten. An einem Baum lehnt ein Flachbildfernseher. „Unseren Boiler im Bad haben sie abgeschraubt und mitgenommen. Selbst eine Kloschüssel ging als Beute mit. Aber der Fernseher war ihnen, aus welchen Gründen auch immer, wohl nicht gut genug. Dafür haben sie ihn kaputt gemacht“, Vasyl wird ärgerlich und zeigt auf die zerstörte Oberfläche des Fernsehers.
Aber am meisten schmerzt Vasyl der Zustand seines Hauses. „Zehn Jahre haben meine Frau Iryna und ich an dem Haus gebaut, Zimmer für Zimmer fertig gemacht. Ein ordentliches Bad eingebaut“, schildert der 62-Jährige. All ihre Ersparnisse hat das Ehepaar in das Haus gesteckt. „Als Arbeiter in einer Fabrik muss man sehr sparsam sein, für sein Haus“, erklärt er.
Zur Verwandtschaft in Russland hat Vasyl keinen Kontakt mehr
Jetzt hofft Vasyl, dass jemand Offizielles kommt, um den Schaden zu begutachten. Vasyl will eine Entschädigung, eine Aufbauhilfe. Er will wissen, ob es für das Dorf eine Zukunft gibt. Ob es woanders neu entsteht. „Wir werden mit Lebensmitteln und Medikamenten durch Hilfsorganisationen versorgt. Dafür bin ich dankbar. Aber wir müssen langsam wissen, wie es weitergehen soll“, findet er. „Russland muss für all das hier zur Rechenschaft gezogen werden. Sie müssen für das bezahlen, was sie uns antun. Ihr Russki Mir (Russischer Frieden) bedeutet Ruinen und Tod“, erklärt er. Doch die Front reicht längst bis tief in die Familie hinein. Vasyls Sohn hat sich freiwillig zur ukrainischen Armee gemeldet und kämpft an der Front. Vasyls Bruder lebt in Russland. „Einmal rief er an, fragte, ob wir alle noch am Leben sind. Kurz darauf beschimpfte er uns schon als Faschisten. Meiner Frau reichte es, sie griff sich das Handy und schrie hinein: ,Sagt wenigstens nicht mehr, dass ihr uns befreit!’“ Seitdem ist jeder Kontakt zur Verwandtschaft in Russland abgebrochen.
So hinterlässt der Krieg überall Trümmerfelder. Die materielle Zerstörung in der Ukraine ist immens: 150.000 Wohngebäude sind laut ukrainischen Angaben beschädigt oder nur noch unbewohnbare Ruinen. Oft genug liegen sie in Minenfeldern oder bergen Blindgänger, darunter oft international geächtete Streumunition. Das Ausmaß der mit Sprengsätzen kontaminierten Flächen ist gewaltig. Anfang Juni 2023 bezifferten ukrainische Behörden sie auf 174.000 Quadratkilometer. Da entspricht ungefähr 30 Prozent der Staatsfläche. Auslaufende Schmier- und Kraftstoffe aus zerstörtem Kriegsmaterial sowie giftige Rückstände von Kampfmitteln, die ins Grundwasser gelangen, toxische Dämpfe bei Bränden, Waldbrände oder der zerstörte Kachowka-Staudamm zeigen, der Krieg ist längst auch zu einer ökologischen Katastrophe geworden.
150.000 Wohngebäude sind beschädigt oder unbewohnbare Ruinen
Vasyl weiß, was die Daten bedeuten. Irgendwo im Ruinendorf gibt es eine dumpfe Explosion. „Vielleicht hat die Hitze eine Landmine zur Explosion gebracht." Oder ein Hund ist auf einen Sprengsatz gelaufen. „Was für ein Wahnsinn. In einem Granatentrichter nahe meinem Haus habe ich die Überreste eines ukrainischen Soldaten gefunden, der dort verscharrt wurde. Was hat der Krieg aus meinem Kamjanka gemacht?“, fragt der 62-Jährige. Dann verabschiedet er den Gast. Auf dem Weg zur Fernstraße, die am Ort vorbei Richtung Slowjansk führt, begegnet man einer alten Frau. Eine der wenigen, die von den einst 1500 Einwohnern zurückgekommen sind. „Bleiben Sie ja auf dem Weg, nicht ins Grüne gehen“, ruft sie schon von Weitem.
An der Fernstraße zieht sich eine Ruinenzeile längst des Asphalts entlang, eine Druckwelle hat den Schildermast eines Fußgängerüberwegs aus der Halterung gerissen und ins Gras stürzen lassen. Ein rotes Schild mit weißem Totenkopf darauf warnt vor Landminen. Das nächste Schild steht 50 Meter entfernt… Dann das nächste… Dann das nächste… Kilometer für Kilometer stehen Warnschilder am Straßenrand. In Kamjanka hängt zudem ein Banner an einer Ruinenwand am Straßenrand: „Bitte helfen Sie, das Dorf wieder aufzubauen“ steht darauf in Ukrainisch und Englisch.