Eine Meeresbrise zerrt an Arzu Saris offenen Haaren, ihr Mann Ömer hat sich einen Pferdeschwanz gebunden. Vier Stunden steht das Paar schon in der Menschenschlange, die sich um die Altstadt von Istanbul kilometerweit am Bosporus entlangzieht, und das Ziel ist endlich in Sicht: die „TCG Anadolu“, das neue Flaggschiff der türkischen Kriegsmarine, das unterhalb der Hagia Sophia im Goldenen Horn vertäut liegt und vom Volk besichtigt werden kann. Schon der Anblick erfülle sie mit Stolz, sagt die 40-jährige Sekretärin über den Stahlkoloss, der mit Hubschraubern und Kampfdrohnen bestückt ist: „Wir können jetzt selbst Hochtechnologie entwickeln, genauso gut wie andere Länder.“ Noch besser, wirft ein Nachbar in der Schlange ein: Bald werde die Türkei vielleicht sogar Deutschlandüberholen. Schon da schwingt die Frage mit: Und wem ist das zu verdanken?
In der Menge vor dem Schiff herrscht Volksfeststimmung; von der unfassbar hohen Inflation, der Erdbeben-Katastrophe mit den zehntausenden Toten und anderen Sorgen ist keine Rede. Zehn Tage vor den Wahlen am 14. Mai mag Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in den meisten Umfragen hinter Kemal Kilicdaroglu liegen, seinem Herausforderer von der Opposition; doch verloren hat Erdogan noch nicht. Er hat ja beispielsweise noch seine vielen treuen Wählerinnen und Wähler in Deutschland. Und dann lautet seine Botschaft an das Wahlvolk, dass das „Jahrhundert der Türkei“ anbreche. Mit dem Slogan und dem neuen Kriegsschiff trifft er den Nerv jener Türkinnen und Türken, die sich stets unterlegen fühlten und mit ihm auf neue Stärke hoffen.
Erdogan präsentiert im Wahlkampf ersten Türken, der ins Weltall fliegen soll
In der Endphase des Wahlkampfes verstärkt Erdogan dieses Thema noch einmal. Als Ort seines ersten Auftritts nach einer mehrtägigen krankheitsbedingten Absenz vorige Woche sucht er sich das „Teknofest“ in Istanbul aus, eine militärische Luftfahrtmesse, bei der die neuesten Produkte der türkischen Rüstungsindustrie präsentiert werden. Bei der Messe stellt er den Luftwaffenpiloten Alper Gezeravci vor, der als erster Astronaut des Landes ins Weltall fliegen soll.
Nach dem „Teknofest“ lässt Erdogan das Foto auf seinem Twitter-Konto durch ein neues ersetzen, das ihn in einer Bomberjacke und mit Sonnenbrille zeigt. Auf dem neuen Bild sehe Erdogan aus, als wolle er sich als Kampfpilot aus den „Top Gun“-Filmen in Szene setzen, kommentiert der Journalist Ragip Soylu. In den letzten Wochen vor der Abstimmung weist Erdogan immer wieder darauf hin, dass seine Regierung die Abhängigkeit der Türkei von Rüstungsimporten drastisch reduziert habe. So arbeitet Ankara unter anderem an der Entwicklung eines eigenen Kampfflugzeuges.
Erdogan will bei den Türkei-Wahlen 2023 auch junge Wähler ansprechen
Mit der Betonung militärischer Aspekte zum „Jahrhundert der Türkei“ will Erdogan nationalistische sowie junge Wählerinnen und Wähler ansprechen. Rund fünf Millionen Türken sind am 14. Mai zum ersten Mal zur Stimmabgabe aufgerufen, das sind rund acht Prozent aller Wähler. Bestimmt wird sowohl das neue Parlament als auch der neue Präsident. Umfragen zeigen, dass Erdogan in dieser wichtigen und möglicherweise wahlentscheidenden Gruppe weniger Unterstützung hat als in anderen Altersschichten. Der Präsident will deshalb die Begeisterung junger Leute für Hochtechnologie nutzen. Auch auf den Nationalstolz der Türkinnen und Türken zielt Erdogan mit seiner Strategie. Bei den Wählern in der Schlange vor der „TCG Anadolu“ hat er damit Erfolg.
„Schau, das ist der Albtraum der Deutschen“, ruft ein Mann in der Schlange triumphierend und zeigt auf die „Anadolu“. Mehmet Ünlü ist Busfahrer, auch er wartet seit dem frühen Morgen, „notfalls den ganzen Tag und die ganze Nacht“, sagt der 55-Jährige. „Weil ich so stolz bin auf das Schiff und auf unser Land.“ Als türkischer Soldat habe er sich von amerikanischen Ausbildern 1988 sagen lassen müssen, dass die Türken immer unterlegen sein würden, weil sie technologisch rückständig seien, erzählt Ünlü. „Und nun haben wir das gebaut“, sagt er und zeigt wieder auf das Schiff. „Das haben wir geschafft.“ Nun würden technologisch führende Länder wie Deutschland wohl Respekt vor der Türkei bekommen, glauben die Menschen hier.
Für die türkischen Streitkräfte ist das Schiff „Anadolu“ etwas ganz Neues
Aus dem ganzen Land sind sie nach Istanbul gekommen. „Dieses Schiff symbolisiert die Souveränität der Türkei“, sagt der 27-jährige Fabrikarbeiter Emre, der aus dem nordwesttürkischen Gebze gekommen ist. Er sitzt auf einer Parkbank und betrachtet das Schiff von außen, weil seine Zeit nicht reicht, um sich in die Warteschlange für die Besichtigung einzureihen. Es sei ihm schon genug, dieses Zeichen türkischer Stärke und Unabhängigkeit mit eigenen Augen gesehen zu haben, sagt der junge Arbeiter – obwohl die „Anadolu“ keine türkische Entwicklung ist, sondern die Kopie eines spanischen Kriegsschiffes.
Für die türkischen Streitkräfte ist die „Anadolu“ etwas ganz Neues. Das Schiff hat eine Reichweite von 9000 Seemeilen und kann damit Hubschrauber, Drohnen und leichte Kampfflugzeuge zu Kriegsschauplätzen in der ganzen Welt transportieren. Erdogan will es dabei nicht belassen. Er plant bereits den Bau eines ausgewachsenen Flugzeugträgers. Manche Türken sehen das als Ausdruck von Großmannssucht und als Verschwendung von Steuergeldern. Andere können es kaum erwarten.
Fast tausend Kilometer weit ist die Familie Kara aus dem ostanatolischen Sivas angereist, um die Attraktion zu sehen – und steht mit zwei Kindern schon den zweiten Tag an. „Normalerweise würden wir jetzt unsere Verwandten besuchen“, sagt Familienvater Hasan Kara. „Aber dies ist uns noch wichtiger.“ Als Geschichtslehrer erinnert der 34-Jährige daran, wie die Briten im Ersten Weltkrieg zwei Kriegsschiffe beschlagnahmten, die das Osmanische Reich in England bestellt und bezahlt hatte. Und heute würden die USA der Türkei die F-35-Kampfjets verweigern, deren Entwicklung die Türken mitfinanziert haben. „Wir wollen nicht mehr herumgeschubst werden, und dafür steht dieses Schiff“, sagt Kara. „Wir wollen keinen Krieg führen, wir wollen aber auf eigenen Beinen stehen können.“
Der Nachbar Griechenland habe von der „TCG Anadolu“ nichts zu befürchten, sagt auch Ömer Faruk Sari, doch die amerikanischen Kriegsschiffe im Bosporus würden ihm schon lange auf die Nerven gehen. Mit seinem Pferdeschwanz sieht der Englischlehrer nicht aus wie ein typischer Wähler von ErdogansRegierungspartei AKP. Mit Parteien habe das alles nichts zu tun, entgegnet Sari. „Wir Türken schätzen einfach Männer, die Stein auf Stein setzen und etwas schaffen.“ Mit ausladender Geste weist er auf das Panorama am Bosporus: „Sieh mal, den Fernsehturm, die große Moschee über der Stadt, dieses neue Schiff– das hat alles Erdogan geschaffen.“ Die Umstehenden stimmen eifrig ein und setzen die Aufzählung fort: das neue Elektro-Auto aus türkischer Produktion, das Erdgas aus türkischen Feldern, die Umwidmung der Hagia Sophia zur Moschee, in der Türken seither wieder beten dürfen.
Im Rennen um die Türkei-Wahlen 2023 liegt Erdogan hinten
Die Hagia Sophia taucht auch in den Wahlwerbespots der Regierung auf. Trotzdem haben es Erdogan und die AKP bisher nicht geschafft, die Opposition in den Umfragen zu überholen. Alle Befragungen lassen zwar erwarten, dass die AKP auch im neuen Parlament mit einem Wähleranteil zwischen 31 und 40 Prozent stärkste Kraft bleiben wird. Aber wegen der Schwäche ihrer rechtsnationalistischen Bündnispartnerin MHP könnte die AKP trotzdem die Kontrolle über die Volksvertretung verlieren. Kilicdaroglus Oppositionsbündnis aus sechs Parteien und die pro-kurdische Grünen-Links-Partei, die Kilicdaroglu ebenfalls unterstützt, kommen in den meisten Befragungen zusammen auf eine Parlamentsmehrheit.
Auch im Rennen um die Präsidentschaft liegt Erdogan hinten. Manche Umfragen sehen Kilicdaroglu knapp unterhalb oder sogar oberhalb der Schwelle von 50 Prozent, die er für einen Sieg in der ersten Runde am 14. Mai überschreiten muss. Erdogan liegt je nach Umfrage zwischen 43 und 46 Prozent. Erreicht kein Kandidat auf Anhieb mehr als 50 Prozent, fällt die Entscheidung über den neuen Präsidenten in einer Stichwahl am 28. Mai.
Kilicdaroglu konzentriert seinen Wahlkampf auf die Sorgen der Wählerinnen und Wähler wegen der exorbitant hohen Inflation sowie wegen Korruption und anderer Missstände. Er wirft der Regierung und ihren Anhängern vor, mehr als 400 Milliarden Dollar ins Ausland geschafft zu haben. Kilicdaroglu sagt, er werde das Geld ins Land zurückholen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Erdogan kontert, der Präsidentschaftskandidat der Opposition wolle ausländischen Geldgebern Einfluss über die Türkei verschaffen.
Hier haben sie für das Versprechen von Herausforderer Kilicdaroglu nichts übrig
Die meisten in der Schlange vor der „Anadolu“ haben für Kilicdaroglus Versprechen und Warnungen nichts übrig. „Auch andere Länder haben unter der Pandemie gelitten, auch dort ist Öl und Gas wegen des Ukraine-Krieges teurer geworden“, sagt ein Mittvierziger namens Salih. Das sind die Argumente, die auch der Staatspräsident immer wieder vorbringt. „Unser Land muss sich verteidigen können“, sagt Salih. „Sonst kommen wir unter die Knute der imperialistischen Kräfte wie USA, England oder Israel.“
Der 27-jährige Ali Reza ist einer der wenigen, die nicht wegen, sondern trotz Erdogan in der Schlange stehen. Er interessiere sich für Militärtechnik, sagt der junge Mann mit Basketball-Mütze und Sonnenbrille. Nur „ungebildete Leute“ verstünden das neue Schiff als Symbol nationaler Größe. Er werde am 14. Mai nicht für Erdogan stimmen, doch erwarte, dass der Präsident siegen wird. „Leider.“