Panzer richten ihre Kanonen aufeinander, Soldaten spähen durch Ferngläser, nur getrennt durch steinernes Sperrwerk. Amerikaner gegen Russen, Kapitalismus gegen Sozialismus: Eine gespannte Szenerie in Schwarz-Weiß baut sich in den Köpfen auf, wenn der Name Checkpoint Charlie fällt. Durch diese Szenerie laufen Kennedy und Chruschtschow, Willy Brandt und Walter Ulbricht. Das Schicksal der Welt stand an jenem Berliner Grenzübergang auf Messers Schneide, es hätte zum Dritten Weltkrieg kommen können. Der Checkpoint Charlie ist eine Legende der einst geteilten Stadt, in der sich Berlin-West und Berlin-Ost gegenüberstanden und belauerten.
Der Legende erweisen jedes Jahr vier Millionen Besucherinnen und Besucher die Reverenz. Über das lange Wochenende zum "Tag der Deutschen Einheit" werden Massen zu ihr strömen. Doch eigentlich ist von der Legende materiell nicht mehr viel übrig. In der Mitte der Friedrichstraße steht eingezwängt von hohen Häusern eine kleine, weiße Baracke. "US Army Checkpoint" steht in schwarzen Lettern über dem Dach. An einem Fahnenmast flattert das Sternenbanner und in Steinwurfweite liegen die Schnellrestaurants von McDonald's und KFC. Die harte und die weiche Macht der Vereinigten Staaten – die Armee und Hamburger mit Fritten – sind symbiotisch vereint.
Den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion haben die USA eindeutig gewonnen, der Checkpoint Charlie ist der Beweis. Im Durchschnitt überzeugen sich davon täglich mehr als 10.000 Menschen. Sie kommen aus Amerika, Japan, Afrika, aus Spanien und Italien, Frankreich und England, Schulklassen aus Deutschland und Schulklassen aus den Niederlanden. Sie gondeln von allen Seiten über die Friedrichstraße, kopfschüttelnde Auto- und Radfahrer haben ihre liebe Not, niemanden umzufahren.
Die Legende ist Kulisse. Die aufgestapelten Sandsäcke sind mit Beton gefüllt. Und die Baracke ist ein Nachbau
Zum Ritual des Besuchs gehört die Aufstellung hinter der Sandsackwand und das Antreten zum Foto. Es dauert eine Weile wegen des Gedränges, bis man an der Reihe ist. Viele möchten gerne einzeln vor dem Wachhäuschen abgelichtet werden, als gehörte es einem ganz allein. Doch die Legende ist Kulisse. Die aufgestapelten Sandsäcke sind mit Beton gefüllt. Und die Baracke ist ein Nachbau, das Original steht heute im Museum.
"One, two, three, four", zählt ein Hütchenspieler, während die Schächtelchen mit der Kugel durcheinanderwirbeln. Er hockt einige Meter neben der Baracke auf der Straße und lockt mit einem Gewinn von 50 Euro. Sein Geschäft trägt, immer wieder zieht er Touristen ihr Geld aus der Tasche. "No photos", zischt sein Kompagnon mit der schwarzen Sonnenbrille, der als Komplize fester Teil der alten Masche ist. "One, two, three, four", ertönt es wieder. Die letzte Zahl geht unter im Geknatter der Trabis, deren Safari durch den Berliner Osten natürlich im Zweitakt ihres Motors am Checkpoint vorbeiführt. Schräg gegenüber werden an einem Stand Russenmützen mit dem roten Sowjetstern verkauft und alte Gasmasken in Schlammgrün.
Sherry aus der Nähe von St. Louis im US-Bundesstaat Missouri geht nah ran an die Baracke und schaut in das Innere, wo einige Schautafeln lehnen und eine ausgeblichene Porträtaufnahme des verstorbenen Gründers des gegenüberliegenden Mauermuseums windschief auf einer Staffelei steht. Es ist Sherrys erste Reise nach Deutschland. In ihrem leuchtend roten Haar trägt sie eine dazu passende Sonnenbrille in Horn-Optik. Noch zu Hause hat sie über die Berliner Mauer und die Konfrontation der Supermächte gelesen. "Wenn man darüber liest, dann schleicht sich die Angst an", erzählt sie. "Hier kriegt man dieses Gefühl nicht." Sie findet, dass der Checkpoint Charlie, diese Legende des Kalten Krieges, irgendwie aufdringlich wirkt und ein bisschen schmuddelig. Mit ihrer erwachsenen Tochter will die Amerikanerin weiter nach München zum Oktoberfest fahren. Ein Dirndl hat sie schon gekauft. "Das ursprüngliche Zeugs ist ziemlich verschwunden", ruft ein Touristenführer einer Gruppe von US-Rentnern zu. Mithilfe einer Fotomappe will er sie zu dem Ort bringen, den sie in ihren Köpfen haben, aber den es in der Wirklichkeit nicht mehr gibt.
Berliner verlieren sich nur hierher, wenn sie in der Nähe arbeiten oder Gäste aus der Provinz haben
Diese Mischung aus schmuddeliger Aufdringlichkeit und Besuchermassen ist es auch, die Berliner einen Bogen um die historische Ecke an der Kreuzung Friedrichstraße/Zimmerstraße machen lässt. Die Hauptstädter verlieren sich nur hierher, wenn sie in der Nähe arbeiten oder Gäste aus der Provinz haben, die einen Hauch des einstigen Frontstadt-Grusel spüren wollen. Seit der Wiedervereinigung wird in Berlin alle paar Jahre über den Charakter des Checkpoint Charlie gestritten. Touristenhölle, Rummelplatz, Kalter-Krieg-Disneyland, Geschichte to go sind die feststehenden Begriffe, mit denen dann hantiert wird.
30 Jahre lang fehlte eine echte Idee, was dieser Ort sein soll. Keiner der Regierenden Bürgermeister machte ihn zu seinem Thema. Das hat auch damit zu tun, dass der Ort nach der Niederlage der Sowjetunion privatisiert wurde. Der Systemstreit war entschieden. Die beton-brutale DDR-Grenzfestung mit ihrem Wachturm wurde abgerissen. Der Erbe des Kosmetikkonzerns Estée Lauder, Ronald Lauder, kaufte die Grundstücke um den Checkpoint und wollte dort ein "American Business Center" errichten. Tausende Jobs sollten entstehen. Doch das Projekt holperte nach dem Sieg des Westens. Im Jahr 1997 stieg Lauder aus, nur drei von fünf Grundstücken wurden bebaut. Der Kapitalismus erlitt am Ort seines Sieges eine Schlappe.
Bis 2019 verkleideten sich Schauspieler als amerikanische und sowjetische Soldaten und posierten gegen Geld mit Besucherinnen und Besuchern
Auf den Brachen und an der Baracke wird seitdem in kleinerem Maßstab Geld verdient. Eben mit Hütchenspielen, Russenmützen, Fotos und Currywurst mit Pommes. Bis 2019 verkleideten sich Schauspieler als amerikanische und sowjetische Soldaten und posierten gegen Geld mit den Besuchern. Wer sein Bild vor der Baracke im Speicher seiner Kamera oder seines Handys hat, kann sich in der Strandbar Charlie's Beach hinter einem Bretterzaun in den Sonnenstuhl fallen lassen und Cocktails schlürfen.
Trotz seines ungebrochenen Erfolgs ist dem Berliner Senat der Touristenmagnet ein bisschen peinlich. Der Checkpoint soll anders werden, weniger ranzig, ohne Hütchenspieler und Russenmützen. Charlie's Beach soll schließen. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) beklagte schon 2018 in einem Gastbeitrag im Berliner Tagesspiegel den aus seiner Sicht unwürdigen Umgang mit der Geschichte. "Der Checkpoint Charlie ist ein Ort von nationaler Bedeutung. Er ist auch der beste Ort, um die Erinnerung daran wachzuhalten, dass Freiheit und Demokratie alles andere als selbstverständlich sind", schrieb er seinerzeit in seiner Funktion als baupolitischer Sprecher seiner Fraktion.
Vergangenes Jahr kaufte das Land Berlin einen Teil der Brachflächen, um der Erinnerung ein anderes Antlitz zu geben. Die Historikerin Susanne Muhle hat den Auftrag dazu. Sie ist die Leiterin des Projekts "Erinnerungsort Checkpoint Charlie" bei der Stiftung Berliner Mauer, so ihr offizieller Titel. "Das Spannende an dem Ort ist, dass er Menschen aus der ganzen Welt anzieht. Sie kommen hierher, weil sie ihn mit dem Kalten Krieg verbinden, aber auch der Berliner Mauer. Letztere können sie hier aber gar nicht sehen", erzählt Muhle bei einer Schorle im Café direkt gegenüber der Baracke.
Sie hat den Job seit 2016. Ihr schwebt vor, dass die Straßenabschnitte um den Checkpoint für einige Stunden am Tag für den Verkehr gesperrt werden, damit sich Besucher und Autofahrer nicht mehr permanent in die Quere kommen. Sie will wechselnde Ausstellungen in einem Informationszentrum, das die kleine provisorische Schau ablöst. Sie denkt an Bänke unter Bäumen, auf denen sich die Leute niederlassen können. Auf den Straßen soll mit Farbe nachgezeichnet werden, wie groß die Grenzzone einst war.
Künftig soll der Checkpoint Charlie Lust machen auf tiefergehende Ausstellungen
Ihre Vision: Der Checkpoint soll Lust machen auf tiefergehende Ausstellungen wie die Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße. Diese schauen sich pro Jahr eine Million Besucherinnen und Besucher an. "Charlie" zieht deutlich besser. "Es gibt hier mehrere Brücken, die wir vom Checkpoint in die Gegenwart schlagen können", sagt sie. "Der Überfall Russlands auf die Ukraine lässt viele von einem neuen Kalten Krieg sprechen. Europa diskutiert wegen der Flüchtlinge über das Schließen von Grenzen und das Errichten von Grenzanlagen."
Die Besucher aus aller Welt sollen hier also ins Gespräch kommen, statt sich mit dem schnellen Selfie zufriedenzugeben. Und die Berliner sollen wieder Lust bekommen, sich anzusehen, wo die Stadt einst geteilt war. Viele sind zugezogen oder jünger als Mitte 30 und kennen den Kalten Krieg nur von Bildern, genau wie die Touristinnen und Touristen. "Wir Deutschen sind nicht so gut darin, die Erfolge in unserer Geschichte wertzuschätzen. Gerade die Überwindung von SED-Diktatur und deutscher Teilung ist so ein Erfolg, auch wenn die anschließende Transformation keinesfalls optimal verlief und für viele schwierig war", sagt Susanne Muhle.
Weil Berlin aber Berlin bleibt, ist es für sie und ihre Mission nicht ganz einfach. Mittlerweile gehört der große Rest der Brachflächen dem Immobilienentwickler Gold.Stein aus Frankfurt am Main. Auf seiner Internetpräsenz firmiert das Projekt unter der Überschrift "Checkpoint Charlie @the original". Dort steht nichts, wie sich das Original dazu verhält, dass es nicht mehr viel Originales gibt. Geplant ist jedenfalls eine gemischte Nutzung aus Büros, Wohnen und Handel. Eine Mitarbeiterin will nichts zu den Plänen der Firma sagen und verweist freundlich auf die Senatsverwaltung Berlins. Diese wiederum verweist auf die städtebaulichen Leitlinien und teilt mit: "Die Leitlinien sehen unter anderem vor, dass ein zusammenhängender erinnerungskultureller Stadtraum gestaltet werden soll, der die gesamte Dimension der ehemaligen Grenzübergangsstelle vermittelt und in dem die historisch entstandene Leerstelle stärker wahrnehmbar wird."
Die Beauftragte für den Erinnerungsort weiß auch nicht, was genau ihr künftiger Nachbar Gold.Stein aus den Leitlinien ableitet und wie die neuen Häuser aussehen werden, die an der historischen Stelle entstehen sollen. Susanne Muhle rechnet nicht damit, dass ihre Vision vor 2029 Wirklichkeit werden kann. Bis dahin bleibt der Hauptstadt sein rumpeliges Kalter-Krieg-Disneyland mit Geschichte zum Mitnehmen wohl erhalten. "One, two, three, four", zählt der Hütchenspieler mit osteuropäischem Akzent. Es ist klar, wer den Kalten Krieg gewonnen hat.