
Die letzten Meter ziehen sich. Fast 20 Minuten ist man zu Fuß unterwegs, um das imposante Regierungsgebäude zu erreichen. Es liegt auf einem Hügel im Osten der nordirischen Hauptstadt Belfast, im Stadtteil Stormont. Auf vier Stockwerken befinden sich Parlamentssäle, Besprechungsräume sowie Büros für Abgeordnete und Beamte. Micky McCoy, der Interessierte seit elf Jahren durch das Regionalparlament führt, erlaubt an diesem Tag Besucherinnen und Besuchern, auch auf jenen Stühlen Platz zu nehmen, die eigentlich den nordirischen Politikerinnen und Politikern vorbehalten sind. Denn "Stormont" ist nahezu leer. Wo Gesetze für Menschen im nördlichen Landesteil des Vereinigten Königreiches diskutiert und abgesegnet werden sollen, herrscht Stille. Es ist ein Ausnahmezustand, der zum Dauerzustand zu werden droht.
Viele Menschen in Belfast reagieren inzwischen mit Desinteresse darauf. Andere mit Verärgerung. "Wir benötigen dringend eine Regierung. Es ist eine Schande, dass eine Partei alles aufhalten kann. Und sie werden immer noch bezahlt", sagt etwa die 66-jährige Rosemary. Die pensionierte Bibliothekarin stammt aus einer katholischen Familie, versteht sich aber als Buddhistin. Nicht nur eine Schande, existenziell ist die Lage für jene, die ein kleines Unternehmen führen. Wie ein Mann namens Ugur. Der 54-Jährige besitzt ein Café im Süden der Stadt. An den Wänden hängen gerahmte Sinnsprüche. Sein Lokal soll eine gewisse Leichtigkeit ausstrahlen, er leidet. Weil es keine Regierung gibt, habe er dringend nötige finanzielle Hilfen nicht erhalten. "Die Zeiten sind hart", sagt Ugur.
Sunak: Nordirland als einer der "aufregendsten Wirtschaftsräume der Welt"
Das Regionalparlament tagt bereits seit Februar des vergangenen Jahres nicht mehr. Seit Mai 2022 verweigert die erzkonservative protestantische Partei "Democratic Unionist Party" (DUP) die Regierungsbildung mit der republikanischen Sinn-Fein-Partei– aus Protest gegen das sogenannte Nordirland-Protokoll. Das heißt in seiner neuen Fassung "Windsor Framework". Namensgeber war das Städtchen westlich von London, in dem der britische Premierminister Rishi Sunak und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den überarbeiteten Brexit-Deal Ende Februar 2023 vorgestellt hatten. "Framework" lässt sich mit Rahmen, Gerüst, Modell übersetzen. Es verheißt in den Worten Sunaks: Nordirland– als Landesteil des Vereinigten Königreichs – könne zu einem der "aufregendsten Wirtschaftsräume der Welt" werden, mit ungehindertem Zugang sowohl zum britischen als auch zum europäischen Markt. Sunak sagte das kürzlich bei einem Besuch einer Cola-Fabrik im nordirischen Landkreis Antrim.
Die Unionisten, die eine enge Anbindung an London suchen, sehen den Deal jedoch in weniger hellem Licht. Sie stören sich daran, dass durch das Abkommen die Zollgrenze zwischen der unabhängigen Republik Irland und Nordirland in die Irische See verlegt wurde. Dadurch sollen Kontrollen in der einst vom Bürgerkrieg gebeutelten Region nach dem Brexit verhindert werden. Für sie rückte das britische Festland durch das Rahmengesetz in noch weitere Ferne. "Es war unter anderem der Austritt aus der Union, der das empfindliche Kräfteverhältnis in der Region gestört hat", betont die Politologin Lisa Whitten von der Queen's University in Belfast.
Karfreitagsabkommen wurde vor 25 Jahren unterzeichnet
"Angesichts der Pattsituation ist der Jahrestag des 25. Karfreitagsabkommens für die Menschen in Nordirland eher ein Gedenk- als ein Feiertag", sagt Gareth Harper, Leiter der Organisation "Peace Players" in der Region. Das Projekt ermöglicht Begegnungen zwischen Katholiken und Protestanten über einen Sport, der anders als Fußball oder Rugby "neutral" ist: Basketball. "Kinder, die miteinander Sport treiben, können auch miteinander leben", erklärt er in seinem Büro im Süden Belfasts. So sollen sie sich selbst ein Bild von ihrem Gegenüber machen, jenseits von Ressentiments, die die Gesellschaft immer noch prägen. Denn obwohl das Karfreitagsabkommen als mit Abstand wichtigster Meilenstein in den Bemühungen um Frieden in der Region gilt, ist dieser längst nicht sicher.
Der Vertrag, der am 10. April 1998 in Belfast unterzeichnet worden war, legte unter anderem fest, dass Unionisten und Nationalisten im Regionalparlament gemeinsam regieren sollen. Überdies können Nordiren die irische Staatsangehörigkeit erhalten. Zusätzlich entspannte sich die Lage, weil es aufgrund der Reisefreiheit innerhalb der EU zwischen Nordirland und Irland keine harte Grenze mehr gab. Eine große Mehrheit der Bevölkerung stimmte damals in einem Referendum für das Abkommen. 2005 erklärte die Provisional Irish Republican Army, kurz IRA, den bewaffneten Kampf für beendet.
Ideologischer Konflikt eskalierte zwischen 1968 und 1998
Eskaliert war der ideologische Konflikt zwischen Unionisten und Republikanern zwischen 1968 und 1998 während der „Troubles”, erklärt Stadtführer Paul Donnelly. Er leitet an diesem wolkenverhangenen Märztag Touristen durch Belfast. Im Zentrum der Stadt stoppt er vor einem Fanshop des "Liverpool FC". Wo heute Trikots verkauft werden, explodierte am 4. März 1972 in einem Restaurant eine Bombe. Bei dem Anschlag starben zwei junge Frauen, 130 Menschen wurden teils schwer verletzt, verloren Gliedmaßen und Augen. "Viele, die das erlebt haben, meiden noch heute diese Straße", sagt Donnelly. Sie berichten von Flashbacks, von Erinnerungen an Bilder und Gerüche also, die immer wieder hochkommen.
Der Streit um den nordöstlichen Teil der irischen Insel, das heutige Nordirland, hat eine lange Vorgeschichte, auch das macht er klar. Seit dem 17. Jahrhundert siedelten sich dort protestantische Engländer und Schotten an, die anglikanisch-britische Elite gewann an Einfluss. Nach dem Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1920 wurde im Süden die heutige Republik Irland gegründet, Nordirland blieb Teil des Königreichs. Während Unionisten eine Entfremdung und Abkoppelung von London und in der Folge eine Wiedervereinigung Irlands fürchten, setzen sich Republikaner für ein vereintes Irland und damit für die Loslösung aus dem Vereinigten Königreich ein – bis heute. Obwohl Konflikte schwelen, entwickelte sich Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen in die richtige Richtung, betont Politologin Lisa Whitten. Auch mit Blick darauf: Wo einst aufwendige Kontrollen, gepanzerte Fahrzeuge, Sicherheitskräfte und Straßensperren zum Alltag der Menschen in Belfast gehörten, ziehen heute zahlreiche Pubs und Restaurants Bewohner und Touristen an. Beim St. Patrick's Day, eigentlich ein traditionell irisches Fest, feiern in Belfast viele Protestanten mit und genießen den freien Tag.
Junge Wähler in Nordirland identifizieren sich oft mit keinem der konkurrierenden Lager
Die DUP lehnt gleichwohl den "Windsor Framework" ab. Andere argumentieren, dass der Deal mit der EU die Situation in Nordirland stabilisieren könne. Schließlich geht es dem Landesteil infolge seiner wirtschaftlichen Sonderstellung deutlich besser als dem Rest des Vereinigten Königreichs. "Als Ganzes ist das ein hervorragendes Paket für Nordirland", sagt zum Beispiel der Besitzer eines "Fish and Chips"-Shops in einem protestantischen Viertel Belfasts, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. "Doch hier geht es nicht um Politik, hier geht es um Grün und Orange. Da liegt das Problem.” Grün und Orange sind die Flaggenfarben der Republik Irland.
Die Unionisten wurden im Mai 2022 bei den Parlamentswahlen zum ersten Mal nicht mehr zur stärksten Kraft gewählt. Insbesondere junge Wählerinnen und Wähler identifizieren sich häufig weder mit dem republikanischen noch mit dem nationalistischen Lager. Das beeindruckende Ergebnis der nordirischen "Alliance Party" ist Ausdruck dieses Trends. Weil die DUP viele Stimmen an sie verlor, sieht sie sich nun geschwächt der katholischen Sinn-Fein-Partei gegenüber, die einst als politischer Arm der IRA galt und eine Teilung Irlandsüberwinden möchte. Viele vermuten dies als den eigentlichen Grund, warum die Partei nicht nach "Stormont" zurückkehren will.
Der neue Deal biete "das Beste von beiden Welten"
Rishi Sunak wiederum trieb den Deal mit der EU trotz der Blockade durch die DUP voran. Am 24. März besiegelten der britische Außenminister James Cleverly und EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic das überarbeitete Abkommen. "Der Frühling ist eine Saison des Neuanfangs", sagte Sefcovic. Und betonte erneut, wie wichtig das Abkommen sei – für Nordirland, aber auch für die Kooperation zwischen Großbritannien und der EU. Unternehmen unter anderem in Belfast hoffen jetzt, dass viele Probleme, die das ursprüngliche Protokoll verursachte, wie hohe Kosten durch Bürokratie, bald Geschichte sein werden. So sollen Waren, die aus Großbritannien nach Nordirland kommen und dort verbleiben, weniger kontrolliert werden. Außerdem soll die Lokalregierung Einspruch gegen europäische Gesetze einlegen dürfen – durch die sogenannte "Stormont Brake".
Gareth Hagan, stellvertretender Leiter des Beratungsunternehmens "OCO Global", spricht in einem Café in Belfast sichtlich begeistert von den Chancen durch den "Windsor Framework". "Er bietet das Beste von beiden Welten." Rund um das "Titanic Belfast"-Museum könnten sich Technologie-Unternehmen ansiedeln, aus Großbritannien und dem Rest der Welt. "Es ist kein Zufall, dass der Deal kurz vor dem 25. Jahrestag des Karfreitagsabkommens zustande kam. Es ist ein bedeutender Moment, der nun im Zeichen der Hoffnung steht." Auch Micky McCoy beendet seine Tour durch das Parlamentsgebäude optimistisch. Er hofft, dass die Regierung bald wieder an die Arbeit geht. Beim Abstieg erscheint ein Regenbogen über "Stormont".