
Seit Jahrzehnten steht der Verfassungsschutz von vielen politischen Lagern in der Kritik. Nach dem Versagen der Behörde, die Morde der rechtsextremen Terrorzelle NSU aufzuklären, warf man den Verfassungsschützern vor, auf dem rechten Auge blind zu sein. Die Linkspartei – sie wurde selbst jahrelang beobachtet – möchte den Nachrichtendienst in seiner jetzigen Form abschaffen, wie in ihrem Programm für die Bundestagswahl 2021 nachzulesen ist. Momentan allerdings ist die AfD der schärfste Kritiker des Verfassungsschutzes. Politiker der Rechtsaußen-Partei werfen der Regierung vor, mithilfe der Behörde gegen die Opposition vorzugehen. Anlass zur Frage: Wie unabhängig ist der Verfassungsschutz eigentlich?
Innenminister können bei der Arbeit des Verfassungsschutzes Prioritäten setzen
Christoph Gusy, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, ist Experte für die Arbeitsgrundlagen des Nachrichtendienstes. Grundsätzlich stimme es, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz aus dem Innenministerium in bestimmtem Umfang Weisungen erhalten könne, sagt Gusy. Das sei bei den meisten Behörden der Fall, etwa auch beim Bundeskriminalamt oder dem Robert-Koch-Institut, das am Gesundheitsministerium angesiedelt ist. Wie der Rechtsexperte erklärt, könnten Ministerinnen oder Minister damit Prioritäten bei der Arbeit der jeweiligen Behörden setzen.
Das wurde zum Beispiel deutlich, als der damalige Innenminister Horst Seehofer im Herbst 2018 Thomas Haldenwang zum neuen Verfassungsschutzchef machte, nachdem er dessen umstrittenen Vorgänger Hans-Georg Maaßen in den Ruhestand versetzt hatte. Seehofer und Haldenwang machten von Beginn an klar, dass die Behörde einen schärferen Blick auf den Rechtsextremismus werfen werde. Haldenwang versprach dabei, die sogenannten "neuen Rechten" schärfer ins Visier zu nehmen. Wie ernst sich die Bedrohung erwies, erlebte Haldenwang in seinem ersten Amtsjahr, als der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten ermordet wurde und in Halle ein Attentäter ein Massaker in einer Synagoge geplant hatte.
Wann der Verfassungsschutz eine Partei beobachten darf
Das Weisungsrecht der Regierungen auf den Verfassungsschutz ist laut Rechtsexperte Gusy begrenzt. "Das Innenministerium darf nicht irgendwelche Weisungen erteilen", erklärt er. Eine Ministerin oder ein Minister könne dem Verfassungsschutz nicht einfach anweisen, eine x-beliebige Partei als Verdachtsfall zu beobachten. Anordnungen müssen immer im Einklang mit genauen Vorgaben im Gesetz stattfinden, wie Gusy betont.
Die Voraussetzung für die Beobachtung einer Partei sei zumindest ein begründeter Verdacht, dass sie Bestrebungen gegen die freiheitliche Grundordnung hege. Dies sei zum Beispiel der Fall, wenn sich Parteien gegen Medienfreiheit richteten oder Institutionen wie Gerichte und Parlamente ablehnten. Nur wenn ausreichend solche Hinweise vorlägen, wären entsprechende Weisungen rechtens, erklärt Gusy. Allerdings seien Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen oft vage und diffus. Deshalb wisse der Verfassungsschutz oft viel besser als das Ministerium Bescheid, ob es rechtlich genügend Indizien für eine Beobachtung gebe. "Rein faktisch gesprochen ist das Weisungsrecht des Ministeriums deshalb tendenziell schwach", sagt Gusy.
Wer kontrolliert die Arbeit des Verfassungsschutzes?
Neben dem Innenministerium wachen in Deutschland noch andere Institutionen darüber, ob sich der Inlandsgeheimdienst an Recht und Gesetz hält. Im Bundestag existierten mehrere Kontrollgremien, betont Gusy. Zudem gebe es den Bundesrechnungshof, vor dem der Verfassungsschutz durchaus Respekt habe. Und natürlich wacht im Streitfall die Justiz über die Arbeit der Behörde.
Die AfD klagte schon mehrmals, weil sie sich vom Verfassungsschutz ungerecht behandelt fühlt. Bislang konnte sie allerdings nicht verhindern, von den Landes- und Bundesämtern beobachtet zu werden. Die nächste richtungsweisende Entscheidung wird für Mitte März erwartet. Am Oberverwaltungsgericht Münster soll darüber verhandelt werden, ob die Partei auf Bundesebene als sogenannter Verdachtsfall eingestuft werden darf. Allerdings bereitet der Bundesverfassungsschutz laut Medienberichten bereits den nächsten Schritt vor, die Partei als gesichert rechtsextrem einzustufen.
Andere Kläger waren in der Vergangenheit schon erfolgreich: So entschied das Bundesverfassungsgericht 2013, dass die Beobachtung des heutigen Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow, nicht rechtens war. Der Nachrichtendienst hatte ihn und zahlreiche andere Abgeordnete der Linksfraktion zuvor jahrelang beobachtet.