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Berlin
Demos gegen Rechtsextremismus: Chance und Risiko zugleich
Hunderttausende Menschen gehen gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Sie lassen sich also mobilisieren, wenn die Demokratie in Gefahr scheint. Was heißt das für die etablierten Parteien?
Demonstrationen gegen Rechtsextremismus - Neubrandenburg.jpeg       -  Hunderttausende Menschen in ganz Deutschland machen sich Sorgen um die Demokratie.
Foto: Stefan Sauer, dpa | Hunderttausende Menschen in ganz Deutschland machen sich Sorgen um die Demokratie.
Margit Hufnagel
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:12 Uhr

Es war ein Befund, der in den vergangenen Jahren zur gesellschaftlichen Gewissheit geworden war: Die Deutschen sind all der Krisen müde. Corona, Krieg, Klimawandel, Inflation. Der Blick auf die Politik im Umgang mit den großen Themen wurde zunehmend desillusioniert. Protest äußerte sich vor allem durch den Rückzug ins Reich der Nicht- oder Protestwähler. Das hat sich in den vergangenen Wochen gedreht: Menschen gehen auf die Straße, aufgerüttelt durch die Enthüllungen über die AfD wollen sie ein Zeichen setzen. Doch für die Politik, das zeigen Studien und Zahlen, ist die Entwicklung Chance und Risiko zugleich. 

Seit Mitte Januar demonstrierten mehr als zwei Millionen Menschen, über 500 Veranstaltungen wurden auf die Beine gestellt. „Offenkundig ist ein ,Ruck‘ durch Deutschland gegangen“, sagt der Berliner Parteienforscher Thorsten Faas. „Man sieht das auf verschiedenen Ebenen – etwa bei der hohen Wahlbeteiligung bei der Stichwahl um den Landratsposten in Thüringen, aber auch bei den Demos.“ Und sogar bei den Parteien selbst sei etwas in Bewegung geraten: Sie berichten von einer steigenden Zahl neuer Mitglieder. 

Die Parteien in Deutschland zählen mehr neue Mitglieder

Die Grünen zählten allein in den ersten vier Wochen des neuen Jahres 2600 Neueintritte. „Tatsächlich stellen wir insbesondere in der zweiten Januarhälfte eine deutlich steigende Zahl an Parteieintritten fest“, heißt es auch aus der SPD-Zentrale. Exakte Zahlen werden hier routinemäßig nur zum Jahreswechsel erhoben. So hält es auch die CSU. Doch auch dort freut man sich: „Die Eintrittszahlen sind in der zweiten Januarwoche spürbar gestiegen“, bestätigt ein Parteisprecher unserer Redaktion. Allerdings ist auch die Mitgliederentwicklung der AfD positiv: Zwischen dem 10. Januar und dem 22. Januar seien etwa 1400 Aufnahmeanträge neu eingegangen. Ein weiterer Vergleich lohnt dennoch: Die AfD hat inzwischen 41.000 Mitglieder – die SPD 365.190. 

„Der Eintritt in eine Partei ist wohl der größte Schritt, den Menschen gehen müssen“, sagt Faas. „Zugleich merkt man aber auch: Die Parteien tun sich durchaus schwer, mit diesen Demonstrationen, die ja ,von unten‘ kommen, umzugehen. Man will sie nicht instrumentalisieren, man will sich aber durchaus zeigen.“ Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach teilte auf X ein Foto der Demo in Berlin, das ihn mit SPD-Chefin und Parteikollegin Saskia Esken und der Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley, zeigte. Auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang postete ein Foto von sich auf der Demo in Berlin. Nicht alles, was sie dort zu hören bekamen, dürfte ihnen gefallen haben. Denn auch die Politik der Ampel sorgt bei vielen Demonstranten für Frust. Hat das der AfD erst zu ihrem Höhenflug verholfen? „Das Erstarken der AfD, gerade auch die Zuwächse im vergangenen Jahr, war an einigen Stellen auch eine Reaktion auf politische Prozesse und Entscheidungen“, sagt Faas. „Da ist einiges schiefgegangen.“ 

Eine Mehrheit der Bevölkerung ist enttäuscht von der Ampel

In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dieser Woche gab mehr als jeder zweite befragte junge Erwachsene aus Deutschland (52 Prozent) an, der Regierung nicht zu vertrauen. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa spricht ebenso von einem umfassenden Vertrauensverlust der Wählerinnen und Wähler gegenüber der Regierung: „Die Bundesregierung wird als das derzeit größte Problem in Deutschland angesehen.“ Bundeskanzler Olaf Scholz rangiert im Politiker-Ranking aktuell weit abgeschlagen auf Platz 13 – auf dem letzten Platz liegt allerdings Tino Chrupalla, Vorsitzender der AfD. „Genau das zeigt die Ambivalenz: Menschen sind unzufrieden, enttäuscht, mitunter wütend, aber viele wollen eben auch nicht, dass daraus rechte und rechtsextreme Parteien Profit schlagen“, sagt Faas. „Daher ist viel los gerade auf Deutschlands Straßen und Plätzen.“ 

Das Rheingold-Institut hat in den vergangenen Wochen Menschen nach ihrer Stimmung befragt. Das Resultat ist eigentlich eher ein politischer Auftrag: „Demonstrierende beschreiben, wie sie dadurch aus ihrer Lethargie und passiv-resignativen Stimmung gerissen wurden, die sie angesichts der multiplen Krisen in den letzten Monaten verspürt haben“, sagt der Psychologe und Institutsgründer Stephan Grünewald. Die Demonstrationen würden eine lange brachliegende Bewegungsenergie kanalisieren und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern das Gefühl von Handlungsfähigkeit, sozialem Zusammenhalt und politischer Heimat vermitteln. Eine ähnliche Aktivierung wünschen sie sich allerdings jetzt von der Politik. 

Umfragewerte der AfD sinken leicht

Und wenn die nicht liefert? „Wenn die Bewegung, die durch die Demonstrationen entstanden ist, nicht aufgegriffen wird, kann es sich auch gegen die Politik generell verkehren”, sagt Rheingold-Studienleiterin Birgit Langebartels. Sollte die Bürgerbewegung in den nächsten Wochen versanden, werde sich das Gefühl, wirkungslos zu sein und festzustecken, wieder verstärken. 

Ein erster Erfolg für viele Demonstrantinnen und Demonstranten dürfte sein, dass die Umfragewerte der AfD sinken. Doch ist das tatsächlich eine direkte Folge der Proteste? „Es gibt sicher einen Zusammenhang, aber natürlich muss man auch sehen, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht gerade in Umfragen punktet und der AfD auch Zustimmung entzieht“, warnt Parteienexperte Faas vor voreiligen Schüssen. „Ich fürchte, wir haben es wieder einmal nicht mit ganz einfachen, sondern komplexen Zusammenhängen zu tun.“ Aber klar sei auch: Menschen würden auf das reagieren, was sie sehen, worüber berichtet werde. „Und das ist gerade das Eintreten gegen rechts, und davon lassen sich viele auch mitnehmen“, so Faas. 

Studien aus dem Ausland legen zumindest nahe, dass Demonstrationen Wahlergebnisse beeinflussen können – zulasten der bestreikten Partei. Hinweise darauf fanden Forscher bei Untersuchungen zur französischen Präsidentenwahl 2002, als der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen am Ende dem Konservativen Jacques Chirac unterlag, bei Regionalwahlen in Norditalien 2020, als die „Sardinen“-Bewegung gegen die rechtspopulistische Lega mobilmachte sowie zu Protesten gegen die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte in Griechenland zwischen 2009 und 2019. 

 
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