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Berlin
Die schleichende Normalisierung der AfD
Die AfD erlebt derzeit in Umfragen einen Höhenflug. Das könnte einen Prozess in Gang setzen, an dessen Ende sie eine Partei wie jede andere ist. Wie Experten die Lage einschätzen.
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Foto: Hendrik Schmidt, dpa | Die AfD erlebt in Umfragen aktuell regelrechte Höhenflüge. Aber was bedeutet das für die Zukunft?
Margit Hufnagel
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:38 Uhr

Es ist nur ein Zufall, aber einer, der zeigt, wie schwierig und komplex Politik bisweilen sein kann. Während Außenministerin Annalena Baerbock und Arbeitsminister Hubertus Heil gemeinsam durch Südamerika touren, um dort dringend benötigte Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt anzuwerben, lässt hierzulande die AfD die Sektkorken knallen: Umfrage um Umfrage bescheinigt der rechten Partei gerade einen massiven Zuwachs an potenziellen Wählerinnen und Wählern, mit 18 Prozent liegt sie unter anderem im ARD-Deutschlandtrend inzwischen gleichauf mit der Kanzlerpartei; andere Umfrageinstitute sehen sie auf ähnlichem Niveau. Zwei Drittel der AfD-Sympathisanten geben dort an, die Partei wegen der Migrationspolitik wählen zu wollen, knapp die Hälfte nennt die Energiepolitik. Themen wie Inflation oder Soziales landen weit dahinter.

Eine Entwicklung, die nicht nur die etablierten Parteien aufhorchen lässt, sondern auch die Wirtschaft. Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender des Essener Chemiekonzerns Evonik, macht aus seiner Sorge kein Geheimnis. Er spricht von einer "sehr konkreten Bedrohung unserer liberalen, unserer toleranten Demokratie“. Und das keineswegs nur aus politisch-gesellschaftlichen Beweggründen. Experten mahnen: Rückt Deutschland nach rechts, könnte das auch wirtschaftliche Folgen haben. Der Vizepräsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Oliver Holtemöller, sagt dem Handelsblatt: "Wenn mehr Menschen Forderungen unterstützen, die sich gegen eine offene Gesellschaft richten, dann ist das auch aus wirtschaftlicher Perspektive bedenklich.“ 

Jürgen Falter: "Für eine Entwarnung gibt es keinen Grund"

Doch was lässt sich aus den Umfrageergebnissen für die Zukunft der deutschen Parteienlandschaft herauslesen? Bleibt die AfD eine Protestpartei – oder schafft sie, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird, es, ihr Image abzulegen und bis weit in die Mitte der Gesellschaft wählbar zu werden? 

Der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Falter warnt davor, sich die gesellschaftliche Lage schönzureden. "Das Potenzial der AfD könnte sogar noch größer werden, wenn die Proteststimmung im Land anwächst und keine Partei sich in der Lage zeigt, das aufzufangen“, sagt er. "Für eine Entwarnung gibt es keinen Grund.“ Zwar gaben bei der Umfrage "nur“ ein Drittel der AfD-Sympathisanten an, die Partei aus Überzeugung wählen zu wollen – doch das könnte seiner Einschätzung zufolge auch daran liegen, dass sich ein Teil der Sympathisanten nicht öffentlich bekennen wolle. "Das ist gesellschaftlich immer noch relativ stark sanktioniert“, sagt er. "Deshalb gehe ich davon aus, dass der Anteil der Überzeugungswähler etwas größer und der Anteil der Protestwähler etwas kleiner ist.“ 

Wie hilflos SPD, Grüne und Union sind, zeigte sich schon in den vergangenen Tagen. "Das Problem ist, dass die Parteien solche Entwicklungen sofort instrumentalisieren für den parteipolitischen Streit“, sagt Falter. "Jeder sieht die Schuld beim anderen.“ Ein Rezept gegen den Höhenflug der AfD hätte weder die Ampel noch die Union gefunden. Die Erwartung der AfD-Anhängerschaft, dass die Regierungsparteien ihre Energie- und Migrationspolitik grundlegend ändern, dürfte sich kaum erfüllen. Aber auch CDU und CSU haben ein Problem: "Sie waren 16 Jahre lang für die Migrationspolitik verantwortlich“, sagt Falter. "Der Name Angela Merkel ist mit dem ersten Flüchtlingszustrom eng verbunden, das vergessen die Wähler nicht.“ Friedrich Merz als heutiger CDU-Vorsitzender habe in dieser Frage längst nicht die nötige Glaubwürdigkeit gewinnen können – aber er befinde sich auch in einer Zwickmühle: Anders als AfD und Linkspartei könne eine Partei der Mitte, wie es die CDU ist, keine Fundamentalopposition betreiben.

AfD-Wähler sind verunsichert und frustriert

Norbert Schäuble, Gesellschafter des Sinus Instituts in Heidelberg, hat sich das Milieu der AfD-Anhängerschaft genauer angeschaut. Er sagt: "Das Wertemuster typischer AfD-Wähler ist geprägt durch Vertrauensverlust, Verunsicherung, Überforderung, Frustration und Zukunftspessimismus, umgekehrt durch den Wunsch nach Halt und Verankerung, verbunden mit der Sehnsucht nach einfachen Antworten.“ Man wünsche sich, dass es "so bleibt, wie es nie war“, betreibe eine nostalgische Verklärung der Vergangenheit – im Osten noch stärker als im Westen. So kam die AfD in Brandenburg zuletzt in Umfragen auf 23, in Sachsen auf 26 und in Thüringen auf 28 Prozent. In allen drei Bundesländern werden nächstes Jahr neue Landtage gewählt. Und diese Wahlen könnten so etwas wie eine politische Spirale in Gang halten: "Für die AfD kommen die vorhandene Parteiinfrastruktur im Osten und die entsprechenden Wahlerfolge hinzu – der Erfolg nährt den Erfolg“, sagt der Forscher.

Das könnte irgendwann auch im Westen einsetzen. "Es ist wie ein Naturgesetz: Je länger eine Partei auf der Bildfläche ist, umso mehr gewöhnt man sich an sie“, sagt Politikwissenschaftler Falter. Das sei vor einigen Jahrzehnten schon der Linkspartei und vorher den Grünen gelungen, die beide in ihren Anfangsjahren auf heftigen Widerstand gestoßen waren. "Ein wachsender Anteil der Bürger, inzwischen ist es schon ein Drittel, sieht die AfD als eine normale Partei an – und Normalität bedeutet, dass man sie eventuell auch einmal selbst wählen oder zumindest in Umfragen den anderen Parteien damit einen Schauer einjagen könnte“, sagt Falter.

Dafür spricht eine weitere Entwicklung, die Schäuble und sein Team ausgemacht haben: Es gebe inzwischen so etwas wie eine pragmatische Mitte, die sich durch wachsende Unzufriedenheit und Verunsicherung aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen von der AfD ansprechen lasse. Er verweist auf das Nachbarland: "In Österreich ist dieses Milieu schon länger FPÖ-Potenzial“, sagt er. "Dieses Milieu prägt den modernen Mainstream, hat damit eine Schlüsselfunktion für gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Gelingen gesellschaftlicher Transformation für Zukunftsfähigkeit.“

Wie lässt sich der Erfolg der AfD stoppen?

Für die übrigen Parteien bleibt die entscheidende Frage, wie sich diese Entwicklung bremsen lässt. Dafür unterscheidet Norbert Schäuble zwischen dem rechtsextremen Einstellungspotenzial, das er auf etwa zehn Prozent der Wähler schätzt, das den Kern des AfD-Potenzials bildet, und dem zusätzlichen Protestpotential, das mit jeweils aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen stärker schwankt. Der Milieuforscher warnt vor einem Reflex, der in den vergangenen Jahren häufiger zu beobachten war: "Verloren gegangene Wähler kann man keinesfalls zurückgewinnen, indem man sich AfD-Positionen annähert, sei es durch politische Maßnahmen oder auch nur in der Rhetorik“, sagt er. Dies führe nur dazu, das Original zu stärken und wählbarer zu machen. "Es funktioniert auch mathematisch in Wahlanteilen nicht: Was man damit rechts gewinnen könnte, verliert man um ein Vielfaches in der modernen gesellschaftlichen Mitte“, sagt er. "Was wirklich hilft, ist lösungsorientierte, pragmatische Politik, die Verunsicherung und Zukunftsängste vermeidet.“

Doch genau das dürfte einfacher gesagt als getan sein. "Politische Probleme werden generell als zu komplex wahrgenommen, was bei manchen die Sehnsucht nach einfachen Antworten weckt, auch bis hin zu Verschwörungsnarrativen“, sagt Schäuble. Die AfD bediene dieses Bedürfnis, gerade weil sie keine echte Problemlösungskompetenz beweisen müsse. Und das funktioniert auf Dauer nicht bei allen: "Gerade die moderne gesellschaftliche Mitte mit ihrem Nützlichkeitsdenken bei gleichzeitiger Anpassungs- und Leistungsbereitschaft erwartet pragmatische Politiklösungen und vor allem auch sichere Planungsmöglichkeiten“, sagt Schäuble.

 
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