Victor Gusan ist ein Mann, mit dem man sich besser nicht anlegt. Als der milliardenschwere Oligarch einst einen neuen Spieler für seinen Fußballverein verpflichten wollte, lagen auf dem Tisch eine größere Summe Bargeld - und eine Pistole. Natürlich unterschrieb der junge Rumäne, auch wenn er von Verein und Liga nicht wirklich überzeugt war. Ein andermal soll der gleiche Gusan mit der Leistung seiner Mannschaft so unzufrieden gewesen sein, dass er plötzlich eine Handgranate aus der Tasche zog und sie in Richtung der Spieler warf. Es war, zum Glück, nur eine Attrappe. Trotzdem (oder gerade deshalb) schaffte es Sheriff Tiraspol später bis in die Champions League.
Der ehemalige KGB-Offizier Gusan ist eine der schillerndsten und umstrittensten Figuren in Transnistrien, einer abtrünnigen Provinz der Republik Moldau, direkt an der ukrainischen Grenze gelegen - und ein Sinnbild für alles, was in dem wenig bekannten Land schief läuft, das buchstäblich über Nacht auf der Landkarte der Weltpolitik rot zu leuchten begonnen hat. Dem 60-jährigen gehören Supermärkte, Tankstellen und Telekommunikationsunternehmen in Transnistrien, er soll am Zigarettenschmuggel kräftig verdienen, Abgeordnete schmieren, mit dem Kreml kungeln und auch in Deutschland Filialen seines weitverzweigten Firmen- und Schattenreiches betreiben. Kaum jemand hat also mehr zu verlieren als er, wenn Moldau die Korruption und die Oligarchie zu bekämpfen beginnt - eine Grundvoraussetzung für eine spätere Aufnahme in die Europäische Union.
Ein lange Zeit eingefrorener Konflikt taut wieder auf
„Für uns sieht es so aus, als würde Gusan seine Flucht nach Deutschland vorbereiten“, sagt die Transnistrien-Expertin Irina Tabaranu, eine junge Journalistin aus Chisinau, der Hauptstadt der ehemaligen SowjetrepublikMoldau. Sie steht in ihrem kleinen Büro im Dachgeschoss eines unscheinbaren Mietshauses und erzählt von einem Konflikt, der EU-Europa lange nicht wirklich interessiert hat, der durch den russischen Einmarsch in der Ukraine aber eine Brisanz entwickelt, die Militärs wie Politiker gleichermaßen beunruhigt. Einem Konflikt, der lange eingefroren war und nun auftaut. Ohne es zu wollen ist das kleine, arme Land im toten Winkel Südosteuropas in die Mühlen eines Krieges geraten.
Moldau und Transnistrien: das ähnelt der Ukraine und der Krim wie ein Ei dem anderen. Ein großer Teil des Landes drängt mit Macht nach Westen, der andere, kleinere hat sich mit Wladimir Putin arrangiert. Ausgang ungewiss. Im günstigsten Fall wird die Republik Moldau mit einem heimgekehrten Transnistrien einmal Mitglied der EU und der Nato und Victor Gusan ein Fall für die Justiz. Im ungünstigsten Fall unterwirft Putin sich beide Landesteile und greift von dort aus den Süden der Ukraine an. Wo Irina Tabaranu in dieser Auseinandersetzung steht, ist nicht zu übersehen. Auf einem Regal in ihrem Büro liegt eine Rolle Toilettenpapier, die mit dem Gesicht von Wladimir Putin bedruckt ist.
Anders als in der Ukraine, die geschlossen gegen ihn steht, geht die Saat des russischen Präsidenten in der Moldau zumindest in Teilen auf. Mehrere Sender beschallen das Land mit russischer Propaganda gegen die pro-europäische Staatspräsidentin Maia Sandu und die neue, ebenfalls westlich orientierte Regierung. AmWochenende hat die Polizei nach eigenen Angaben überdies ein pro-russisches Netzwerk enttarnt, das gezielt Stimmung gegen Sandu und ihre Mitstreiter machen sollte. Orchestriert wird das alles von einer „Bewegung für das Volk“, die dem Frust über die hohen Energiepreise und die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes ein Gesicht gibt, die aber keine Bewegung ist, die aus dem Volk kommt. Der Oligarch Ilan Shor, der vor einigen Jahren das Bankensystem des Landes um 900 Millionen Euro beraubt haben soll, ehe er nach Israel floh, bezahlt über seine Helfershelfer in Chisinau Menschen, damit sie gegen die Regierung demonstrieren. Vor allem arme Rentner und die darbende Landbevölkerung nehmen das Geld gerne an. Auch an diesem Sonntag gingen sie wieder zu Tausenden auf die Straße. .
Die Inflation liegt bei mehr als 30 Prozent
Putin und der erst 36-jährige Shor haben unterschiedliche Interessen, verfolgen aber das gleiche Ziel: das Land zu destabilisieren und den eigenen Einfluss abzusichern. Die ökonomischen Kollateralschäden des Ukraine-Krieges spielen ihnen dabei in die Hände. In der Moldau haben sich die Gaspreise nicht nur verdoppelt, wie in Deutschland, sondern sind heute siebenmal so hoch wie noch im September. Selbst in den Regierungsgebäuden bleiben die Flure inzwischen dunkel, um Strom zu sparen. Die Inflationsrate ist auf mehr als 30 Prozent in die Höhe geschossen und knapp ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung ausgewandert - ein Aderlass, dessen Dimension sich erst zeigt, wenn man die Zahlen aus der kleinen Moldau auf das große Deutschland hochrechnet. Danach hätten aus Sorge um ihre Zukunft in den vergangenen Jahren 27 Millionen tüchtige, gut ausgebildete Menschen die Bundesrepublik verlassen, während gleichzeitig mehr als drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine hier Schutz suchen würden.
Marina hat in Kiew in einer Bank gearbeitet. „Ich hatte eine schöne Stelle und ein gutes Gehalt“, erzählt die 34-Jährige. Jetzt wohnt sie mit ihrem achtjährigen Sohn Julian im Souterrain eines tristen Hochhauses in Chisinau, in dem eine Hilfsorganisation ein Flüchtlingslager eingerichtet hat. Wobei: Kann man das wohnen nennen? Dutzende von Stockbetten reihen sich hier aneinander, zwischen einigen von ihnen hängen Wolldecken, um wenigstens eine Illusion von Privatsphäre zu schaffen, so eng geht es hier zu. Im Hintergrund läuft auf einem riesigen Fernseher eine Kochshow, von der aber niemand Notiz nimmt.
Es ist ein dunkles, beklemmendes Provisorium und der letzte freie Platz neben der Spielecke für die Kinder gerade durch einen Wäscheständer belegt. Marina aber stellt keine Ansprüche. „Hier ist es wunderbar“, sagt sie, meint mit „wunderbar“ aber vor allem eines: sicher. Etwa 700.000 Menschen sind seit Kriegsbeginn aus der Ukraine in Richtung Moldau geflohen, die meisten von ihnen schnell weiter nach Westen, mehr als 100.000 aber sind geblieben, weil sie nichts lieber wollen als zurück in ihr Heimatland. Noch sei das zu gefährlich, sagt Marina, die seit einem Jahr hier lebt. „Aber irgendwann…“
Der neue Regierungschef gibt sich gelassen
Chisinau, Mitte März. In dem kleinen Park rund um die orthodoxe Kathedrale flanieren die Menschen bei frühlingshaften Temperaturen, als sei ihre Stadt auch nur eine Stadt wie andere auch. An den Ständen der Blumenhändler drängeln sich die Passanten, und vor dem Kiosk, der sich selbstbewusst „Café“ nennt, stehen die Leute Schlange für einen Pappbecher mit Latte Macchiato. Hinter der friedlichen Oberfläche allerdings tobt ein erbitterter Kampf um die Zukunft des Landes, auf das viele West- und Mitteleuropäer zum ersten Mal im Herbst 2021 aufmerksam wurden, als Victor Gusans Oligarchenklub in der Champions League sensationell Real Madrid schlug. Wie dieser Kampf der Systeme endet? Unklar. Nach einer neuen Umfrage der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung sprechen sich nur noch 48 Prozent der Menschen in Moldau für einen Beitritt zur EU aus, 34 Prozent der Moldawier wünschen sich dagegen möglichst enge Beziehungen zu Russland nach dem Vorbild des Vasallenstaates Belarus - Zerrissenheit in Zahlen.
Regierungschef Dorin Recean, erst seit gut drei Wochen im Amt, versucht trotzdem, gelassen zu bleiben. Aus dem Gespräch mit ihm in seinem schon etwas in die Jahre gekommenen Amtssitz darf man nicht zitieren, seine Botschaft jedoch ist klar: Die Probleme sind gewaltig, aber lösbar. Hauptsache, die Wirtschaft kommt wieder in Schwung. Eine militärische Eskalation hält der 48-Jährige für ähnlich unwahrscheinlich wie einen Putsch pro-russischer Kräfte, über den immer wieder spekuliert wird. Andererseits hat Putin dem ähnlich kleinen Georgien, das in einer ähnlich schwierigen Lage steckt, gerade erst mit einem Militärschlag gedroht.
Was aber ist moldauisches Selbstbewusstsein und was Zweckoptimismus? Igor Munteanu, der einmal Botschafter seines Landes in Washington war und gerade eine neue liberale Partei gegründet hat, spricht vom „Gorbatschow-Syndrom.“ Wie der Vater der deutschen Einheit sei auch die Präsidentin Sandu, eine Ökonomin, die unter anderem für die Weltbank in Washington gearbeitet hat, im Ausland ungleich populärer als im eigenen Land. „Die Regierung verwaltet nur den Status Quo“, kritisiert Munteanu. Und dieser Status Quo hat durchaus bizarre Züge angenommen. Zwar beteuert Regierungschef Recean gerne, sein Land sei nicht mehr abhängig von Putin, der einzige Gasversorger der Republik Moldau aber gehört mehrheitlich dem russischen Konzern Gazprom, der noch immer das Gas für die Separatisten im russisch dominierten Transnistrien liefert. Dort steht auch das größte Kraftwerk des Landes, das aus dem russischen Gas Strom für die ganze Moldau erzeugt. Unabhängigkeit sieht anders aus.
Maia Sandu ist das Gesicht des neuen Moldau
Dass Putins Truppen bald die ukrainische Hafenstadt Odessa erobern und von dort aus weiter nach Transnistrien und in die Republik Moldau vordringen, glaubt im Moment zwar niemand in Chisinau. Ein Land aber kann man sich auch gefügig machen, ohne in es einzumarschieren. Das Gift der Zersetzung ist ein russisches Gift, es schwappt über russische Sender und die sozialen Medien in die Moldau, kaum zu kontrollieren von der noch jungen Regierung und mit jedem Prozentpunkt, den die Inflation oder die Arbeitslosenquote steigen, neue Opfer findend. Maja Sandu ist das Gesicht des neuen, demokratischen Moldau. Aber sie hat in Wladimir Putin und den Oligarchen Gegner, die keine Skrupel kennen. „Und die Widerstandskraft des moldauischen Staates“, warnt der Oppositionspolitiker Munteanu, „ist sehr gering.“ Seine Armee etwa zählt gerade einmal 6000 Soldaten.
Trotzdem hat auch die Macht von Männern wie Ilan Shor und Victor Gusan ihre Grenzen, wenngleich an der im Moment vielleicht unwichtigsten Stelle. Sheriff Tiraspol, der Verein aus Transnistrien, ist aus der Champions League inzwischen in die dritte europäische Liga abgestiegen und steht auch dort kurz vor dem Ausscheiden.