Es ist kein Staatsbesuch wie jeder andere, das zeigt schon das massive Polizeiaufgebot, das ihn schützen soll. Der Bereich um das Bundeskanzleramt ist weiträumig abgesperrt, es kommt zu Verkehrsbehinderungen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist nach Berlin gekommen, das damit an diesem sonnig-kalten Donnerstag auch zum Schauplatz der erbitterten Debatte wird, die in dessen Heimat seit Wochen tobt.
Netanjahu und seine rechts-religiöse Regierungskoalition planen eine Justizreform, in der Kritiker einen Staatsstreich von oben sehen. Vorgesehen ist etwa, dass die Kontrollfunktion des Obersten Gerichtshofs eingeschränkt wird und die Regierung Richterposten besetzen kann. Zudem soll die Immunität von Regierungsmitgliedern ausgeweitet werden – pikant, denn gegen Netanjahu läuft gerade ein Korruptionsverfahren.
Israels Präsident Izchak Herzog mahnte vergeblich einen Kompromiss an, seit Wochen gibt es Großproteste gegen die Reform, die im Eiltempo durchgeboxt werden soll. Gleichzeitig nehmen Spannungen und Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern gerade wieder zu.
Besuch Netanjahus: Eine diplomatische Bewährungsprobe für Olaf Scholz
Auch für den deutschen Bundeskanzler herrscht Ausnahmezustand. Am Morgen gibt Olaf Scholz seine Regierungserklärung im Bundestag ab, dann folgt die vielleicht heikelste diplomatische Bewährungsprobe seiner bisherigen Amtszeit. Bislang hat sich die deutsche Bundesregierung mit Kritik an Netanjahus Kurs sehr zurückgehalten. Dabei hatten 1000 israelische Kulturschaffende in einem Brief an die deutsche Botschaft von der Bundesregierung zuletzt sogar gefordert, den Netanjahu-Besuch abzusagen. Nach der Reform sei Israel kein demokratischer Staat mehr, fürchten sie.
Doch einen gewählten israelischen Ministerpräsidenten auszuladen, wäre ein ungeheuerlicher Affront gewesen, der einen tiefen Bruch in den Beziehungen beider Länder bedeutet hätte. Aber auch moderatere Stimmen erwarteten von Scholz zumindest klare Worte zu den umstrittenen Reformvorhaben. Vor dem Netanjahu-Besuch warnte etwa der Präsident des Zentralrats der deutschen Juden, Josef Schuster, vor einem Abbau demokratischer Strukturen. Dies wäre auch für die jüdische Gemeinschaft außerhalb Israels nicht akzeptabel.
Gedenken am Gleis, von dem aus tausende Berliner Juden deportiert wurden
Den Auftakt des Treffens bildet ein gemeinsamer Besuch von Scholz und Netanjahu an der Holocaust-Gedenkstätte Gleis 17 am Bahnhof Grunewald im Westen Berlins. Von diesem Gleis aus waren ab 1941 tausende deutsche Juden in Arbeits- und Konzentrationslager wie Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau deportiert worden, wo sie größtenteils ermordet wurden. Insgesamt wurden in der Zeit des Nationalsozialismus mehr als 50.000 Berliner Juden ermordet – Kinder, Frauen und Männer.
An sie erinnern 186 in den Gleisschotter eingelassene stählerne Platten, auf denen Daten und Bestimmungsorte sowie die Anzahl der Deportierten vermerkt sind. Netanjahu sagte, bis heute hörten die Rufe nach Vernichtung der Juden nicht auf. Es sei daher wichtig, in der Lage zu sein, sich gegen jegliche Bedrohungen zu verteidigen. Der israelische Ministerpräsident würdigte gleichzeitig die zuverlässige Freundschaft, die sein Land und Deutschland heute verbinde. Bundeskanzler Olaf Scholz betonte: "Die Sicherheit Israels ist eine deutsche Staatsräson." An diesem Ort, an dem viele Menschen in den Tod gefahren seien, bekannte er sich zur historischen Verantwortung und zur Verantwortung, jüdisches Leben in Deutschland zu schützen.
Langes Gespräch zwischen Scholz und Netanjahu hinter verschlossener Tür
Im Kanzleramt ziehen sich Scholz und Netanjahu hinter verschlossene Türen zurück. Dass ihr anschließender Presseauftritt sich um mehr als eine Stunde verschiebt, zeigt, dass es viel zu besprechen gibt. Vor den Mikrofonen versucht Scholz dann, die richtige Balance zwischen Zurückhaltung und Klarheit zu finden: "Wir verfolgen diese Debatte sehr aufmerksam und mit großer Sorge. Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein demokratisches Gut, darin sind wir uns einig." Deutschland schaue genau hin, was sich in Israel entwickle. "Uns ist es wichtig, dass es eine Lösung gibt, die von einer großen Mehrheit getragen wird", sagt Scholz. Er betont aber auch: "Es ist nicht die Aufgabe eines deutschen Regierungschefs, sich in die innenpolitischen Angelegenheiten Israels einzumischen."
Im Konflikt zwischen Israel und Palästina plädiert Scholz, wie es seit Jahren deutscher Regierungskurs ist, auf eine Zweistaaten-Lösung. Der Kanzler bittet Netanjahu darum, von Maßnahmen Abstand zu nehmen, die dem entgegenlaufen. Dessen Regierung will den Siedlungsbau im Westjordanland ausweiten. Scholz und Netanjahu bestätigen Gespräche über das Nuklearprogramm des Iran. "Wir sind uns einig: Iran darf keine Atomwaffen erhalten", betont Scholz.
Netanjahu verteidigt seine Reformpläne: "Israel hat eine unabhängige Justiz, aber viele sind der Meinung, dass sie zu mächtig ist." Die Reform solle ein Gleichgewicht in der Gewaltenteilung schaffen. Dass ein Bruch mit der Demokratie drohe, sei falsch: "Israel ist eine liberale Demokratie und wird es bleiben."