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Beirut
Kriegsangst im Libanon: "Wer lebt, ist nur noch nicht gestorben"
Der Libanon ist seit Jahren dem Zerfall geweiht, jetzt droht eine militärische Eskalation. Die Libanesen fühlen sich fremdbestimmt - und fürchten den Tod.
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Foto: Hussein Malla, dpa | Libanesische Grenzdörfer wie Deir Mimas oder hier Aita al-Shaab geraten immer wieder unter israelischen Artilleriebeschuss. Die Menschen fliehen in Scharen.
Cedric Rehman
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:54 Uhr

Die Äste der sattgrünen Olivenbäume biegen sich auf der Plantage von Hani al Jamal im Dorf Deir Mimas im Süden des Libanon vom Gewicht der reifen Früchte. Aber niemand hält den Erntekorb, um die Oliven aufzufangen. Sie fallen zu Boden und fangen an zu faulen. Hani al Jamal humpelt nach einer Hüftoperation. Er ist auf einen Krückstock angewiesen. Anfang Oktober musste dennoch alles schnell gehen. Der Landwirt und seine Frau Wafaa packten ein paar Flaschen Olivenöl ein und bestiegen ein Taxi nach Beirut. "Auch unsere Mitarbeiter haben alles liegen lassen und sich in Sicherheit gebracht", sagt der Landwirt. Das Ehepaar hörte das dumpfe Knallen der Einschläge, als der Fahrer in Richtung der knapp 90 Kilometer entfernten Hauptstadt davonbrauste. 

29.000 Libanesen sind bereits aus dem Süden geflohen - folgt ihnen der Krieg?

Die Grenze zwischen dem Südlibanon und Israel liegt nur einige Kilometer entfernt. Seit dem Beginn des Krieges zwischen der Hamas und Israels am 7. Oktober feuert die schiitische Hisbollah-Miliz über die Köpfe der Olivenbauern hinweg Raketen in den Norden Israels. Israel bombardiert Stellungen der Hisbollah im Südlibanon. Geschosse landen offenbar aber auch in den Olivenhainen. Sie sollen laut Angaben der Regierung in Beirut mitten in der Erntezeit Brände entzündet haben. 40.000 Olivenbäume hätten die Flammen bereits verschlungen. 

Das Ehepaar hat Glück. Es hat sich in guten Zeiten eine Wohnung in Beirut gekauft und sie mit Möbeln im französischen Stil eingerichtet. 29.000 Libanesen und Libanesinnen sind aus dem Süden in andere Landesteile geflohen. Nicht alle kamen bei Verwandten unter. Ein Netzwerk aus Freiwilligen versorgt Geflüchtete in eilig leer geräumten Schulen. Dem seit dem Beginn der Wirtschaftskrise 2019 klammen Staat fehlen dazu die Mittel. Sie schlafen zwischen Schulbänken und warten, dass die Gefechte im Süden aufhören. Und sie fürchten, dass der Krieg ihnen folgt. 

Als der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah am 3. November zum ersten Mal seit dem Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel vor seine Anhänger trat, hielt der Libanon den Atem an. Viele glaubten, dass Nasrallah die vom Iran finanzierte und mit modernsten Waffen ausgerüstete Hisbollah nach wochenlangen Gefechten mit der israelischen Armee in voller Stärke in den Krieg gegen Israel werfen würde. Doch die Hisbollah setzte ihr Arsenal nicht voll ein. Eine israelische Drohne traf am 11. November einen Truck jenseits der Grenzregion, 45 Kilometer im Landesinnern. Nasrallah wandte sich am selben Tag an seine Anhänger und sprach neue Drohungen aus. Mehr als 60 seiner Kämpfer sind gefallen. Die Grenze bebt. Aber sie ist bisher nicht in die Luft gegangen.

Helferin: "Wenn die Israelis Beirut bombardieren, dann gibt es keine Hilfe"

Die letzte offene Schlacht zwischen Israel und der Hisbollah begann 2006 mit Kämpfen im Gazastreifen. Israel bombardierte damals Ziele im ganzen Libanon. Inzwischen hat sich die vom Iran hochgerüstete Hisbollah zu einer viel ernsteren Gefahr für Israel entwickelt. Sie könnte bis 150.000 Raketen auf den Nachbarn abfeuern. Israels Gegenschlag dürfte entsprechend ausfallen. Wenn das geschähe, bräche die Hölle über den Libanon herein, sagt Hani al Jamal. Krieg war für den Landwirt immer Teil des Lebens – wie die Olivenernte. Frieden und Bomben wechselten sich ab, wie die Jahreszeiten. Er und seine Frau hätten die Möglichkeit, ihr Land zu verlassen. Ihre Kinder leben im Ausland. "Wir sind dafür zu alt", sagt Wafaa al Jamal. 

Beirut machte am 4. August 2020 bereits Bekanntschaft mit der Hölle. Tausende Tonnen des explosiven Düngers Ammoniumnitrat entzündeten sich am späten Nachmittag im Hafen. Eine Wolke aus Dampf fegte durch die libanesische Hauptstadt. 200 Menschen starben. Die freiwillige Helferin Khuloud Abdessamad erinnert sich noch heute an das Wimmern und die Schreie. Helfende warteten vor den Trümmerbergen auf die Feuerwehr, auf die Armee, auf irgendjemanden, der das Kommando übernimmt. Aber niemand tauchte auf. Die Schreie wurden leiser. "Meine Freundin hat einen Catering-Service und verfügt über gute Kontakte. Sie überzeugte einen Unternehmer, einen Kran zu uns zu schicken", sagt Abdessamad. Vom libanesischen Staat hat sie in der Katastrophennacht nichts gesehen. "Wenn die Israelis Beirut bombardieren, dann gibt es keine Hilfe. Unser Staat ist gescheitert", sagt Abdessamad. Die libanesische Regierung habe jahrelang im Hafen Tausende Tonnen hochexplosiven Dünger verrotten lassen, ohne einen Finger zu rühren. Jetzt verspreche Ministerpräsident Nadschib Miqati der Bevölkerung Notfallpläne für den Ernstfall. "Sie wussten die ganzen Jahre, wie gefährlich das ist, und haben nichts getan. Und jetzt soll ich glauben, sie lassen sich was einfallen, um uns zu schützen", sagt die Libanesin. 

Abdessamad sitzt vor ihrem Laptop im Garten eines Cafés in der Beiruter Innenstadt. Eigentlich ist es zu dunkel zum Arbeiten. Die Straßenlampen sind ausgefallen oder abgeschaltet. Strom ist rar. Dem Staat fehlen Devisen, um Treibstoff für Kraftwerke zu kaufen. Generatoren brummen. Abdessamad arbeitet für eine Firma in Saudi-Arabien. Sie müsse sich seit Kriegsbeginn zwingen, ihre Arbeit zu erledigen und nicht ständig an Eilmeldungen hängenzubleiben. "Ich habe keinen Plan B für den Ernstfall", sagt die 29-Jährige. Ihre Freunde seien seit dem 7. Oktober schrittweise ins Ausland verschwunden. Abdessamad hat stattdessen ein Stipendium für einen Master in Deutschland im kommenden Jahr sausen lassen. "Es ist unmöglich, irgendetwas zu planen. Ich könnte nächstes Jahr schon tot sein", sagt sie. 

Von dem Protesten 2019 ist nichts mehr übrig im Libanon

Im Herbst 2019 stand die junge Akademikerin mit Hunderttausenden Libanesen auf dem zentralen Märtyrerplatz in Beirut und forderte Reformen. Doch der Kampf ums tägliche Überleben in einem laut der Weltbank von der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 1850 gebeutelten Land lässt keinen Atem mehr für Visionen und Reformeifer. Seit dem Rücktritt des Staatspräsidenten Michel Aoun im vergangenen Herbst ist es nicht gelungen, ein neues Staatsoberhaupt zu wählen. Ministerpräsident Miqati führt eine Übergangsregierung. Die Zentralbank und die Behörden sind führungslos. Ein Staat zerbröckelt vor den Augen seiner Bürgerinnen und Bürger. 

Der Analyst Yeghia Tashjan vom Issam-Fares-Institut für Internationale Politik in Beirut hat seine Mutter vor der Rede des Hisbollah-Führers am 3. November angerufen. Er bat sie, sich für einige Wochen mit Lebensmitteln einzudecken. Das Institut liegt in einem Kubus aus Beton und Glas auf dem Gelände der Amerikanischen Universität. Auf den Gängen herrscht Stille. Viele Studierende seien ins Ausland geflohen, erklärt Tashjan. Der Politikwissenschaftler wagt keine Prognose, wann seine Hörsäle wieder gefüllt sein werden. Er fürchtet einen langen Krieg in Gaza. Der Analyst hält nach der Rede des Hisbollah-Chefs die Gefahr immerhin für geringer, dass die Hisbollah eine zweite Front eröffnen will. Der Anführer der Schiiten-Miliz hat gegrollt und gedroht. Eine Kriegserklärung an Israel konnte aber niemand aus seinen Worten lesen. Tashjan sieht in Nasrallah einen Taktiker, der einschätzen könne, wann er sein Blatt überreizt. "Ich glaube, die Hisbollah wird etwas intensiver kämpfen als bisher. Aber unterhalb der Schwelle von 2006", bei der letzten offenen Schlacht.

So viel Schaden ihre Raketen in Israel auch anrichten können, die Hisbollah kann sie nur einmal abfeuern. Dann ist ihr Trumpf verpufft. Für ihre Paten im Iran gebe es aber eine rote Linie. "Sollte die Hamas wirklich vor der Niederlage stehen, dann wird die Hisbollah voll in den Krieg eintreten", sagt der Politik-Experte. Der Libanon sei wie ein Ball, der von robusten Spielern über das Feld gejagt wird. Die Libanesen wüssten, dass ein ausgewachsener Krieg ihrem Land das Genick brechen könnte. Die Hisbollah ruft immer wieder ihre Anhänger auf die Straßen. Die meisten Libanesen beschränken sich aber auf digitale Sympathiebekundungen für die Palästinenser. Keine andere Gruppe könne die Miliz bremsen, wenn sie wirklich in den Krieg ziehen will. "Die Hisbollah ist zu stark", sagt er. 

Libanon in der Wirtschaftskrise: Unternehmer auf Suppenküche angewiesen

Israel könnte wie im Krieg 2006 eine Seeblockade vor der Küste des Libanons errichten. Dann reichen Essen und Medikamenten laut der Übergangsregierung für ein bis zwei Monate. Libanon speicherte seine Vorräte für Notzeiten ausgerechnet in dem als Ruine weltweit bekannt gewordenen Getreidesilo im Hafen von Beirut. Das halbeingestürzte Bauwerk steht nun wie ein Mahnmal da für ein Land, das sich nicht selbst helfen kann. 

Die Preise für Lebensmittel steigen, weil Schiffe mit dem Ziel Libanon höhere Versicherungsprämien für Verluste im Kriegsfall zahlen müssen. 80 Prozent der Bevölkerung fristeten ihr Leben aber schon vor dem 7. Oktober unterhalb der Armutsgrenze. Dabei galt der Libanon einmal als wohlhabende Finanz- und Handelsmacht und nannte sich die "Schweiz des Nahen Ostens". Nach vier Jahren Wirtschaftskrise sind auch Pleite gegangene Unternehmer auf Suppenküchen angewiesen. In die Armut abgestürzte Beiruter stehen jeden Tag in der Mittagszeit etwa im christlichen Viertel Aschrafiyya Schlange vor einer ehemaligen Tankstelle. Die Hilfsorganisation "Nation Station" gibt warme Mahlzeiten aus. Ältere Damen mit Sonnenbrille und geblümten Kleidern versuchen, vor der Ausgabe ihre Würde zu bewahren.

Josephine Abou Abdu verteilt mit einer Kelle ein Gericht aus Kartoffeln und Fleisch in Plastikschalen und übergibt sie an jeden mit einem Lächeln. Sie will keine Sorgenfalten zeigen. Aber "Nation Station" spüre bereits die Last des drohenden Krieges, sagt sie. Die Initiative finanziert sich neben Spenden vorwiegend durch Catering. "Jetzt sind alle Events abgesagt", erklärt Abou Abdu. Solange es geht, will "Nation Station" Menschen mit Essen versorgen. "Wir machen auch bei Angriffen auf Beirut weiter, es sei denn, es ist so gefährlich, dass keiner von uns das Haus verlassen kann."

Ein 66 Jahre alter Mann steht in der Schlange an und weiß, was ihm dann blühen könnte. Er beziehe sein ganzes Essen von "Nation Station" weil er vollkommen mittellos sei, sagt der Mann namens George Katra. Seine Geschichte wäre wohl in vielen Ländern nicht gut ausgegangen. Aber so bodenlos konnte er vielleicht nur im Libanon fallen. Katra arbeitete als Manager für ein Unternehmen. Dann wurde er mitten in der Wirtschaftskrise schwer krank. Operationen verschlangen das Ersparte. Es folgte die Entlassung und eine Scheidung. Dem Mann scheint nicht viel geblieben zu sein. Das Hemd schlackert um seinen dürren Oberkörper. Wenn der Krieg ausbricht, werde er in seiner Wohnung sitzenbleiben, sagt er. "In unserem Land sind diejenigen, die noch am Leben sind, einfach nur noch nicht gestorben."

 
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