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Tel Aviv
Ein Haftbefehl wäre für Deutschland ein politisches Dilemma
Der Antrag des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs auf Haftbefehle gegen die Führung Israels und der Hamas sorgt für politische Schockwellen. Welche Folgen die juristische Verfolgung Netanjahus haben könnte.
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Foto: Amir Cohen, dpa | Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu sieht sich heftigen juristischen Vorwürfen ausgesetzt.
Margit Hufnagel
 |  aktualisiert: 25.05.2024 02:42 Uhr

Der Anspruch ist nicht weniger, als die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Politische und militärische Machthaber sollen nicht mehr davonkommen mit ihren Verbrechen gegen das Völkerrecht. Nicht die Kleinen, sondern die ganz Großen nehmen die Richter in Den Haag seit nunmehr 26 Jahren ins Visier. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) gilt als eine der wichtigsten Einrichtungen im Kampf gegen Kriegsverbrechen. „Diese Institution ist ein Wunder“, hatte der erste Chefankläger Luis Moreno Ocampo einmal gesagt. Mehr als 40 Haftbefehle wurden seit dem Jahr 2002 ausgestellt – bald könnte sich auch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in die Liste der Schande einreihen. Chefankläger Karim Khan hat Antrag auf Haftbefehl gestellt. Ob der tatsächlich erlassen wird, müssen nun die Richterinnen der Vorverfahrenskammer des IStGH entscheiden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Richterinnen Iulia Motoc, Reine Alapini-Gansou und Socorro Flores Liera dem Antrag von Khan folgen, ist relativ groß. Ministerpräsident Netanjahu und dem israelischen Verteidigungsminister Joav Galant werden unter anderem vorgehalten, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung sowie für willkürliche Tötungen und zielgerichtete Angriffe auf Zivilisten verantwortlich zu sein. Den Hamas-Führern wirft Khan unter anderem „Ausrottung“ sowie Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. 

Israel erkennt den Strafgerichtshof nicht an

So umfassend der Anspruch des IStGH auch ist, so offensichtlich bleibt seine Schwäche: Israel ist – wie auch die USA, China und Russland – nicht Mitglied des Gerichtshofes und deshalb nicht verpflichtet zu kooperieren. Vollzogen werden könnte der internationale Haftbefehl nur dann, wenn sich Netanjahu in einem Land aufhält, das die Den Haager Institution anerkennt – 124 Staaten haben das getan, unter anderem Deutschland. Für die Regierung in Berlin würde sich ein gewaltiges Dilemma auftun: Auf der einen Seite wäre die Bundesrepublik verpflichtet, Galant und Netanjahu festzunehmen, sollten sie deutschen Boden betreten. Staatsbesuche wären also kaum mehr möglich – auch, weil ein Haftbefehl nicht verjährt. Auf der anderen Seite ist gerade die Bundesregierung im Umgang mit Israel um größtmögliches diplomatisches Fingerspitzengefühl bemüht. Immer wieder hatte Bundeskanzler Olaf Scholz in den vergangenen Wochen betont, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson sei. 

Sollte Deutschland einen möglichen Haftbefehl ignorieren und damit gegen internationale Verträge verstoßen, müsste die Bundesregierung zwar kaum mit weitreichenden Sanktionen rechnen, würde sich aber dem Vorwurf aussetzen, mit zweierlei Maß zu messen. Im Jahr 2015 etwa hatte Südafrika den vom IStGH gesuchten damaligen sudanesischen Machthaber Omar al-Baschir unbehelligt ausreisen lassen und musste sich scharfe Kritik unter anderem aus Berlin gefallen lassen. Auch in einem anderen Fall pocht die Bundesregierung auf die Umsetzung eines Haftbefehls: Den Haag hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen der Verschleppung von ukrainischen Kindern zur Fahndung ausgeschrieben. Sollte sich Berlin im Fall Israels nicht an die Vorgaben halten, wäre das zumindest Gift für die eigene Reputation – zumal Paris dem IStGH bereits den Rücken gestärkt hat. „Frankreich unterstützt den Internationalen Strafgerichtshof, seine Unabhängigkeit und den Kampf gegen Straflosigkeit in allen Situationen“, teilte das französische Außenministerium mit. Das Leiden sowohl der Israelis als auch der Palästinenser müsse beendet werden. 

Experte: Israel wird Opfer seiner eigenen verfehlten Politik

Unabhängig davon, welche juristischen Schritte unternommen werden, ist der Schaden für Israel immens. Das Land nimmt für sich in Anspruch, über eine der moralisch integersten Armeen der Welt zu verfügen und im Gazastreifen einen „gerechten Krieg“ zu kämpfen. Der Einwurf aus Den Haag trifft das Land deshalb gleich doppelt an einer empfindlichen Stelle. „Israel sieht sich selbst in einem existenziellen Abwehrkampf gegen die Hamas“, sagt Stephan Stetter, Nahost-Experte an der Universität der Bundeswehr in München. Der Anschlag vom 7. Oktober hat ein schweres Trauma in der Gesellschaft hinterlassen. Auch deshalb werde vieles, was im Gazastreifen geschehe, ausgeblendet. „Die Vorwürfe aus Den Haag zeigen, dass der israelischen Regierung ihre Kriegsführung vollkommen entglitten ist“, sagt Stetter. „Israel wird zum Opfer seiner eigenen verfehlten Politik.“ Benjamin Netanjahu habe sich nie auf eine Nachkriegslösung eingelassen, das militärische Vorgehen sei nicht in einen politischen Plan eingebettet worden. „Ein wichtiges Mittel, die Hamas zu bekämpfen, wäre eine alternative palästinensische politische Kraft, die in der Lage wäre, den Gazastreifen zu regieren“, sagt der Experte. Stattdessen würden zumindest die rechtsradikalen Kräfte innerhalb der israelischen Regierung ganz offen das Ziel propagieren, die Palästinenser aus dem Gazastreifen vertreiben und das Gebiet wieder durch israelische Siedler besetzen zu wollen. Die Vorwürfe von Chefankläger Khan seien auch deshalb nicht so einfach vom Tisch zu wischen. 

Doch die israelische Regierung habe sich angewöhnt, emotional-moralisch statt nüchtern und sachlich zu argumentieren. Am Dienstag nannte Netanjahu Karim Khan einen „der großen Antisemiten der Moderne“. Er verglich Khan sogar mit den NS-Scharfrichtern und warf ihm „Blutverleumdung“ vor – dieser auch als Ritualmordlegende bekannte Begriff bezieht sich auf antisemitische falsche Anschuldigungen gegen Juden seit dem Mittelalter. „Das deutet darauf hin, dass sich Israel weder juristisch noch politisch-diplomatisch wirklich den Erfordernissen stellt“, sagt Stetter. Auch das sei ein Grund, warum sich nun der Strafgerichtshof einschalte. Denn der wird nur dann tätig, wenn eigene nationale Strafverfolgungsbehörden nicht dazu in der Lage oder willens sind, entsprechende Verbrechen zu ahnden.

 
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