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Berlin, Jerusalem
"Ich lasse mir die Hoffnung auf Frieden in Nahost nicht nehmen"
Sumaya Farhat-Naser schildert die Lage in Gaza und dem Westjordanland aus palästinensischer Sicht. Die Trägerin des Augsburger Friedenspreises kritisiert Israel, ohne das Massaker der Hamas zu beschönigen.
Nahostkonflikt - Rafah.jpeg       -  Ein vertriebenes palästinensisches Kind aus dem Norden von Gaza-Stadt steht vor einem provisorischen Zelt bei Rafah im Süden des Gazastreifens.
Foto: Mohammed Talatene, dpa | Ein vertriebenes palästinensisches Kind aus dem Norden von Gaza-Stadt steht vor einem provisorischen Zelt bei Rafah im Süden des Gazastreifens.
Simon Kaminski
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:13 Uhr

Bilder vom Krieg. Tote, Verletzte, Rauchschwaden, geborstener Beton, aus dem Stahldraht ragt. Bilder aus dem Gazastreifen, die seit Jahrzehnten traurige Realität sind. Jetzt aber gleicht das Gebiet an der Küste mit seinen 2,2 Millionen Menschen einer gigantischen Schuttwüste, in der Frauen, Männer und Kinder auf der Suche nach Schutz, Essen und Wasser umherirren. 17.000 Kinder und Jugendliche sind nach Zahlen des UN-Kinderhilfswerks Unicef derzeit auf sich allein gestellt – ohne ihre Eltern oder Geschwister.

Die israelische Reaktion auf das Massaker vom 7. Oktober mit 1200 Toten und etwa 250 Verschleppten geht mit unverminderter Härte weiter. Der beispiellose Überfall auf Zivilisten im israelischen Grenzgebiet löste eine Militäraktion aus, der nach palästinensischen Angaben bis zu 28.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.

Beobachter hatten mit einer Explosion, einem Schlag der Hamas gerechnet

Die brutale Attacke der Hamas hatte die israelischen Sicherheitsbehörden völlig überrascht. Doch für Beobachter in Gaza oder dem Westjordanland hatte sich eine Eskalation schon länger angedeutet. „Wir haben gewusst, dass es zu einer Explosion, zu einem Schlag der Hamas kommen würde. Als dann aber klar war, dass bei dem Massaker unschuldige Zivilisten getötet wurden, dass Menschen verschleppt wurden, hatte ich Tränen in den Augen. Wir alle sind Menschen“, sagte die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die 75-jährige Christin, die im Jahr 2000 den Augsburger Friedenspreis erhielt, wurde 1948 in Birzeit, nördlich von Ramallah geboren. Dort lebt sie bis heute. Die Schriftstellerin, Wissenschaftlerin und Dozentin hat zahlreiche palästinensisch-israelische Projekte für Verständigung und gegen die Hoffnungslosigkeit im Nahen Osten mitgegründet.

Ihre Kritik an Israel, an den Zuständen in Gaza und im Westjordanland fällt hart aus. Der israelischen Armee wirft sie bei ihrem militärischen Vorgehen in Gaza vor, „Kriegsverbrechen“ zu begehen. „Die Gründe für die Wut und die Verzweiflung der Palästinenser liegen auf der Hand: Die Jugend hat keine Perspektive, wir haben eine Arbeitslosigkeit von 65 Prozent in Gaza. Im Westjordanland ist die Situation ebenfalls katastrophal. Dort missachten uns die israelischen Behörden, sie drücken uns förmlich an die Wand. Es geht ihnen ausschließlich um die Sicherheit der Siedler.“ Sie und ihre Familie lebten in ständiger Angst davor, dass fanatische Siedler in ihr Dorf kommen und Häuser anzünden. Immer wieder würden sie auf Autos und sogar Schulbusse schießen. Viele seien dabei gestorben. „Israelisches Militär und die Polizei drohen, dass es zu einer neuen Katastrophe kommen werde, wenn wir nicht gehen. All das signalisiert uns, dass die israelische Regierung nicht an Frieden, sondern an unserem Land interessiert ist.“

Im Westen werde zudem völlig unterschätzt, welche Bedeutung die rund 8000 palästinensischen Gefangenen in Israel, unter denen sich auch Frauen und Jugendliche befinden würden, für die Menschen in Gaza oder im Westjordanland hätten. Farhat-Naser: „In 56 Jahren haben die Häftlinge in den Gefängnissen ein beispielloses Bildungssystem erkämpft. Sogar mit Abitur, das anerkannt wird. Darauf sind wir sehr stolz. Dieses System wollen die Extremisten im Kabinett Netanjahu zerstören. Das sorgt für ohnmächtige Wut.“ Ebenfalls mit Erbitterung werde registriert, dass Israel den Konflikt insbesondere in Jerusalem religiös auflade. „Tausende Israelis vertreiben Muslime vom Platz vor der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg, um dort selbst zu beten. Das ist für Muslime kaum zu ertragen.“

Scharfe Kritik an Israel keine Entschuldigung für Taten der Hamas

Als Entschuldigung für die Taten der Hamas will sie ihre scharfe Kritik an Israel nicht verstanden wissen. Allerdings gibt sie den wechselnden israelischen Regierungen eine Mitschuld daran, dass die Gruppe eine solch große Macht in Gaza erlangen konnte: „Man darf nicht vergessen, dass die Hamas, die die palästinensische Jugend gegen Israel aufhetzt, von Israel über Jahre indirekt unterstützt wurde. Zum Beispiel verhinderte die Regierung ganz bewusst nicht, dass Geld aus Katar für die Hamas geflossen ist.“

Trotz des schrecklichen Krieges sei es wichtig, „nicht unsere Menschlichkeit zu verlieren, auch um unsere Seelen zu retten.“ Sie habe seit Kriegsbeginn viele Briefe an israelische Frauen und Freunde geschrieben oder mit ihnen telefoniert. „Wir haben empört über die Lage gesprochen. Wir haben getrauert, wir haben geweint, wir haben geflucht und dann gehofft. Meine Freundinnen haben Angst um ihre Söhne, ich um meinen Enkel, wenn er zur Schule fährt. Das ist ein Horror. Wenn man meine Briefe neben ihre Briefe legt, kann man nicht unterscheiden, ob sie von einer Israelin oder einer Palästinenserin geschrieben sind.“

"Die Palästinenser benötigen Arbeit, eine Perspektive, Freiheit"

Sie lasse sich ihre Hoffnung auf Frieden nicht nehmen, sagt Farhat-Naser – auch jetzt nicht. „Die Palästinenser benötigen Arbeit, eine Perspektive, Freiheit. Sie müssen ihre Sicherheit selbst organisieren. Wenn das erreicht ist, warum sollten sie dann zur Hamas gehen und sich im Kampf töten lassen?“ Jetzt müsse es zunächst einen Waffenstillstand geben. „Dann benötigen wir neue Strukturen für die palästinensischen Behörden. Dazu sollten wir eine Übergangsregierung aus fähigen Leuten einsetzen. In zwei Jahren könnten die Palästinenser nach 19 Jahren dann endlich wieder wählen“, skizziert die mehrfach ausgezeichnete Friedensaktivistin ihre Vision.

Doch es geht auch um die Veränderung im Bewusstsein der Kontrahenten. Der israelische Historiker Dan Diner schrieb jetzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass seine Landleute lernen müssten, zu verstehen, dass die Palästinenser zum Land gehören und auch nicht vorhaben, sich aus diesem zu verabschieden. Die Palästinenser wiederum müssten lernen, dass die jüdischen Israelis im Land keine wildfremden Besucher sind, die irgendwann von dannen ziehen werden, sondern durch Gebürtigkeit Indigene, also Einheimische. Sumaya Farhat-Naser, die bereits Vorträge zusammen mit Diner bestritten hat, muss nicht lange überlegen, als sie diese Sätze hört: „Das stimmt“, sagt sie.

 
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