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Augsburg/Kiew
Wolodymyr Selenskyj, der einsame Kämpfer
An der Front gibt es kaum Erfolge, es fehlt an Mensch und Material. Und dann muss der ukrainische Präsident auch noch um die internationale Hilfe bangen. Wohin driftet dieser Krieg?
Kanzler Scholz in New York.jpeg       -  Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, braucht einen Erfolg im Kampf gegen den Aggressor Russland.
Foto: Michael Kappeler, dpa | Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, braucht einen Erfolg im Kampf gegen den Aggressor Russland.
Margit Hufnagel, Simon Kaminski
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:53 Uhr

Seinen Mund umspielt ein leichtes Lächeln, die Stirn ist wie so oft in Falten gelegt. Es schwingt leichter Spott mit, als Wolodymyr Selenskyj auf die Frage antwortet. Wie viele Anschläge er eigentlich seit Ausbruch des Krieges überlebt habe, will ein britischer Reporter der Sun wissen. Selenskyj winkt ab. Fünf oder sechs seien es wohl gewesen, erzählt der ukrainische Präsident, genau könne er das gar nicht sagen. „Es ist ein bisschen wie mit Corona“, sagt er. „Beim ersten Mal weiß man nicht, wie man damit umgehen soll, und alles wirkt sehr beängstigend, aber mit der Zeit nimmt man die Nachrichten der Geheimdienste, dass es wieder eine Gruppe gegeben hat, eben wahr.“ Er habe gelernt, mit der Bedrohung zu leben. Der 45-Jährige sitzt im Präsidentenpalast in Kiew, hinter sich die Flagge, die Wände goldverziert. Und tatsächlich ist dies an Tag 638 dieses Krieges eine der größten Erfolge, den die Ukraine vorweisen kann: dass an der Stelle Selenskyjs eben kein russischer Statthalter Platz genommen hat. Er ist der Stachel im Fleisch des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Doch der starke Mann aus Kiew steht mächtig unter Druck. An den Fronten gibt es kaum Fortschritte, innenpolitisch gibt es Streitereien. Zwar kann er in diesen Tagen wieder hochrangige Gäste in der ukrainischen Hauptstadt empfangen: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin war da, genauso sein deutscher Amtskollege Boris Pistorius und der Brite David Cameron. Sie alle betonen, dem Land weiterhelfen zu wollen.

Doch was die großen Versprechen wirklich wert sind, das kann im Moment niemand sagen. In den USA lauern Donald Trump und ein Präsidentschaftswahlkampf. In Deutschland klafft ein Milliardenloch in der Haushaltskasse. Mit einer Zusage für die dringend benötigten Taurus-Marschflugkörper ist ohnehin nicht zu rechnen. Dabei braucht Selenskyj dringend einen Erfolg, mit dem er die Moral auch im eigenen Land hochhalten kann. Wer mit Experten über die Lage der Ukraine spricht, der hört hinter vorgehaltener Hand düstere Szenarien. Die Ukraine blute langsam aus, heißt es. Die Frage, die über allem thront: Wie lange wird Selenskyj noch durchhalten? Was ist, wenn die Ukraine am Ende ist? 

Norbert Röttgen macht dem Westen im Ukraine-Krieg schwere Vorwürfe

„Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind nicht bereit, ihr Land aufzugeben“, sagt Norbert Röttgen. „Sie werden weiterkämpfen.“ Im Land liegen die Zustimmung für Selenskyj und seinen Kurs bei immer noch 76 Prozent, wie das Kiewer Internationale Institut für Soziologie gemessen hat. Doch der Außenpolitikexperte der CDU weiß auch, dass allein das kaum reichen wird. Ein Stellungskrieg ist mit hohen Opferzahlen verbunden, je länger er andauert, umso mehr Soldaten werden sterben.

„Es wäre das historische Versagen des Westens, die Ukraine durch nicht ausreichende Waffenlieferungen in diese Lage gebracht zu haben“, mahnt Röttgen. Während Russland auf eine Kriegswirtschaft umstelle und sich auf einen Stellungs- und Abnutzungskrieg vorbereitet habe, schaffe Europa es nicht einmal, der Ukraine die zugesagte Munition zu liefern. „Nicht die Motivation der kämpfenden Ukrainer ist das Problem, sondern Deutschland, die anderen großen europäischen Staaten und die USA sind es“, sagt der Unionspolitiker. 

Wieder mehren sich die Stimmen, die einen raschen Friedensschluss beschwören. Wieder würde der auf Kosten der Ukraine gehen. „Das wäre dann der Gipfel einer kurzsichtigen Außenpolitik“, sagt Röttgen. „Wenn der Druck von denen ausginge, die durch mangelnde Waffenlieferungen die Lage erst herbeigeführt haben, wäre es sogar zynisch.“ Die Folgen, so glaubt er, würden auf Deutschland, Europa und die Nato zurückschlagen. Es ist eine der am häufigsten genannten Warnungen – die aber immer weniger gehört zu werden scheint: „Wenn Krieg sich für den Aggressor lohnt, dann werden wir mehr Krieg bekommen, und er wird immer näher an uns heranrücken“, sagt Röttgen. „Die Ukrainer verteidigen eben auch unsere Sicherheit.“ Wenn sie darin scheitern, werde es für uns sehr viel teurer werden. 

Die personellen Ressourcen der Ukraine sind entscheidend

Und tatsächlich tut sich die Ukraine schwer. „Was wir jetzt sehen, ist das Ende der ukrainischen Sommeroffensive. Erreicht wurde lediglich ein taktischer Einbruch in die russischen Linien. Wir sprechen von wenigen Kilometern“, sagt der Militärexperte und ehemalige Oberst der Bundeswehr, Wolfgang Richter (Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik). Für die Zunft sei es entscheidend, dass sich nur der durchsetzt, der über mehr materielle und personelle Ressourcen verfügt. Richter sieht hier Vorteile bei Russland, während die Ukraine von westlicher Hilfe abhänge. „In den USA, aber auch in Westeuropa, wachsen die Vorbehalte, die Unterstützung in einigen Ländern bröckelt.“ Zuletzt hatte der ungarische Präsident Viktor Orbán eine Grundsatzdebatte über die Ukraine-Politik der EU gefordert – sein Veto könnte eine geplante Milliardenunterstützung ausbremsen. 

Doch selbst, wenn die Ukraine auch in Zukunft ausreichend Geld und Waffen aus dem Westen erhalten würde, werde es ein wachsendes Problem für Kiew sein, genügend Personal für den Krieg zu finden. „Über die ukrainischen Verluste wird öffentlich wenig berichtet“, sagt der Militärexperte. Schätzungen gehen davon aus, dass bereits 70.000 ukrainische Soldaten gefallen sein könnten. Aktuelle Zahlen aus Kiew sprechen zudem von über 50.000 Menschen, die so schwere Verletzungen erlitten haben, dass sie nicht mehr an der Front eingesetzt werden können. „Das sind zusammen etwa 120.000 irreversible Verluste, die vor allem die professionellen Kampftruppen treffen. Hinzu kommt eine hohe Zahl an Verwundeten“, sagt Richter. 

Gibt es für diesen Krieg eine Exitstrategie?

Auch innerhalb der Ukraine zeigen sich Ermüdungserscheinungen. „Zwar ist eine Mehrheit der Ukrainer weiterhin bereit, sich gegen den russischen Angriff zu verteidigen, und die Solidarität mit der Armee ist weiterhin sehr hoch“, sagt Richter. „Aber es gibt auch eine wachsende Zahl von jungen Männern, die sich dem Kriegsdienst entziehen. Schlangen von Freiwilligen sieht man in den Städten nicht mehr. Viele haben sich ins westliche Ausland abgesetzt.“ Die europäische Statistikbehörde geht von rund 650.000 ukrainischen Männern im wehrfähigen Alter aus, die sich allein in den EU-Staaten sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz befinden. 

Wie soll es also weitergehen in der Ukraine? „Es fehlt eine Exitstrategie zur Kriegsbeendigung unter Wahrung der ukrainischen Souveränität“, sagt Militärexperte Wolfgang Richter. „Dies wird kaum ohne schmerzliche Kompromisse möglich sein.“ CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen wird deutlicher: „Wir müssten hochgradig alarmiert sein“, sagt er. „Leider sehe ich das bei der Bundesregierung nicht.“ Noch nicht einmal mit Blick auf die eigene Sicherheitspolitik. Röttgen: „Dass sich in der Bundesregierung irgendeiner auf die mögliche Wiederwahl von Trump vorbereitet, kann ich nicht erkennen.“

 
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