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Krieg im Nahen Osten
Israels Krieg gegen die Hamas: Das deutsche Dilemma
Mit jedem Tag wächst im Gazastreifen das Leid der Zivilbevölkerung. Die Solidarität der israelischen Partner bröckelt. Und was ist mit der deutschen Staatsräson?
Nahostkonflikt - Vor Ramadan in Jerusalem.jpeg       -  Israel ist seit Jahren ein Pulverfass. Durch den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 und den nun schon seit fast sechs Monate währenden Krieg sind die Aussichten auf Frieden noch geringer geworden.
Foto: Leo Correa, dpa | Israel ist seit Jahren ein Pulverfass. Durch den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 und den nun schon seit fast sechs Monate währenden Krieg sind die Aussichten auf Frieden noch geringer geworden.
Margit Hufnagel
 |  aktualisiert: 02.04.2024 02:46 Uhr

Die Hölle hat viele Gesichter. Den einen offenbart sie sich in den staubigen Trümmern von Gaza. Dort, wo der Hunger erbarmungslos nach den Kindern greift, wo sich die Leichen stapeln, wo sich mehr als zwei Millionen Menschen jeden Tag fragen, was aus ihnen werden soll. Den anderen erscheint sie im Tunnelsystem der Hamas, dort, wo jüdische Frauen und Kinder von Terroristen als Geiseln gefangen gehalten werden, in den Kibbuzim, die zu Geisterdörfern geworden sind nach dem Terror der islamistischen Menschenjäger, im Heulen der Sirenen, das immer dann anschwillt, wenn aus dem schmalen Küstenstreifen wieder Raketen in Richtung Israel fliegen. Der 7. Oktober 2023 hat nicht nur die Welt des Nahen Ostens in ein Davor und ein Danach geteilt. 

Die Brutalität der Hamas, das Recht Israels auf Selbstverteidigung, der Wunsch der jüdischen Bevölkerung nach einem Leben ohne dauernde Bedrohung, die Katastrophe von Gaza, die offene Frage, was nach diesem Krieg kommen soll – all das prallt gerade mit größtmöglicher Wucht aufeinander. Fast sechs Monate sind vergangen seit dem schlimmsten Massaker in der Geschichte Israels, seit fast sechs Monaten gilt die Losung: Erst wenn die Hamas ausgeschaltet ist, darf dieser Krieg enden. Doch der Rückhalt der internationalen Partner schwindet. Selbst in Deutschland ändert sich der Ton. Man könne nicht zusehen, wie der Hungertod der Palästinenser riskiert werde, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz mahnend bei seinem Besuch in Tel Aviv. Außenministerin Annalena Baerbock warnt: „Das militärische Vorgehen hat seine Grenzen im humanitären Völkerrecht.“ Allein: Premier Benjamin Netanjahu und seine Regierung zeigen sich unbeeindruckt.

Wie kann eine verantwortungsvolle Israel-Politik in Zeiten des Krieges aussehen?

Gerät die deutsche Israel-Politik an ihr Limit? Das Dilemma wird mit jedem Tag, an dem die Kämpfe andauern, offensichtlicher: Auf der einen Seite gilt Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson, als unverrückbarer Kern der Politik einer jeden Bundesregierung. Auf der anderen Seite fällt es immer schwerer, die hohen Zahlen ziviler Opfer als alternativlosen Teil dieses Krieges hinzunehmen. Der Beziehungsstatus lautet: Es ist kompliziert. 

„Die deutsche Israel-Politik ruht auf zwei Säulen: Da ist zum einen die historische Verantwortung, zum anderen sind da aber eben auch die großen Leitlinien und Werte der Außenpolitik – und die orientieren sich an Friedenspolitik“, sagt Peter Lintl. „Bislang hat man immer versucht, zwischen diesen beiden Säulen ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, doch nach fast sechs Monaten Krieg seit dem 7. Oktober ist das in eine Schieflage geraten.“ Der 43-Jährige ist Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, beobachtet die großen und auch die kleinen Wege, die die beiden Länder in den vergangenen Jahren genommen haben, genau. Aus dem Wissen um die eigene Verpflichtung, die sich aus dem Holocaust ergibt, scheute sich die Bundesregierung lange, Kritik an Israel vorzutragen. „Das war zu Beginn dieses Krieges auch richtig“, sagt Lintl. Der Terror der Hamas sei ein so einschneidendes Erlebnis für die israelische Gesellschaft, dass die internationale Solidarität nur folgerichtig sein konnte. „Doch anders als die Israelis können wir nicht in diesem Moment des 7. Oktobers verharren“, sagt der Experte. „Die sechs Monate des Krieges und vor allem des Kriegsverlaufes dürfen wir nicht ignorieren.“

Die Vorwürfe wiegen schwer: Der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht Anzeichen dafür, dass Israel den Hunger im Gazastreifen als Kriegsmethode einsetzt. Als Besatzungsmacht steht das Land eigentlich in der Pflicht, die Versorgung der Menschen zu gewährleisten. Die Zahl der zivilen Opfer sei beispiellos, die Prinzipien des Völkerrechts würden von beiden Kriegsparteien missachtet. „Die Israelis sind sicherlich nicht zimperlich, sie gehen mit großer Entschlossenheit vor“, sagt Lintl. „Sie nehmen sehr viel Zerstörung, sehr viele Tote in Kauf – und letztlich auch eine humanitäre Katastrophe. Das kann man nicht ignorieren.“ Aber lange Zeit habe die deutsche Politik genau das gemacht. 

Kann man Israel Kolonialismus vorwerfen?

Mit einem Mal rückte sie deshalb selbst in den Fokus – ausgerechnet die moralische Trittsicherheit der Deutschen wird angezweifelt. Denn im Ausland ist der Diskurs über den Nahost-Konflikt oftmals ein anderer. Im April muss sich der Internationale Gerichtshof in Den Haag mit einer Klage des Staates Nicaragua auseinandersetzen. Der Vorwurf: Deutschland leiste Beihilfe zu Kriegsverbrechen und zu einem Völkermord an den Palästinensern. Eine Hauptrolle, die für Berlin nicht gerade angenehm ist. Noch dazu, weil der Vorwurf ausgerechnet von einem Staat kommt, dessen Präsident sich mit den schmutzigen Mitteln eines Diktators an die Macht klammert. Zuvor hatte schon Südafrika Israel einen „Völkermord“ an den Palästinensern vorgeworfen und eine Klage eingereicht – und in Teilen Recht bekommen. 

Gerade in Ländern des sogenannten „Globalen Südens“ ist der Referenzpunkt für das ultimative Menschheitsverbrechen nicht der Holocaust, sondern der Kolonialismus. Und den werfen sie Israel vor. In der Geschichtswissenschaft ist das, gelinde gesagt, höchst umstritten. Ja, Israel ist ein junges Land, gegründet nach den Vorstellungen des Zionismus: Der nationale Gedanke und die Sehnsucht nach einem eigenen Staat waren immer eine treibende Kraft. Doch Juden lebten eben auch seit Jahrhunderten in der Region. Heute stammen über 50 Prozent der jüdischen Israelis aus dem Irak, aus dem Jemen, aus Marokko, aus Ägypten. Ähnlich schwierig ist es mit dem Vorwurf der Apartheid. Palästinenser erleben in Israel immer wieder Nachteile. Doch Tatsache ist eben auch: Die Ungleichbehandlung ist nicht rassistisch motiviert, sondern eine Antwort auf die Bedrohungslage. In Israel gibt es arabische Parteien und Richter – einen davon sogar am Obersten Gerichtshof. 

Im Nahen Osten sucht man vergebens nach einfachen Antworten

„Kolonialismus, Apartheid, Genozid, ethnische Säuberung, Terrorismus, aber mitunter auch Antisemitismus – all das sind Begriffe, die man zwar wissenschaftlich definieren kann, aber sie sind auch zu politischen Kampfbegriffen geworden, die dazu dienen, die andere Seite zu delegitimieren“, sagt Lintl. Die moralischen Trennlinien sollen auf diese Weise millimetergenau gezogen werden, die manchmal quälende Komplexität der Wirklichkeit wird dabei gerne ausgeblendet. Doch wer einfache Antworten sucht, ist im Nahen Osten am falschen Ort. Ins Schwarz-Weiß-Bild mischen sich hier unzählige Grautöne. 

Doch Kritik erfährt Deutschland eben längst nicht nur von jenen Ländern, die den Krieg ohnehin für eine Generalabrechnung mit Israel nutzen. Die belgische Entwicklungsministerin Caroline Gennez fragte jüngst provokant: „Wollt Ihr wirklich zweimal auf der falschen Seite der Geschichte stehen?“ Die durchaus streitbare Schriftstellerin Deborah Feldman, Autorin des autobiografischen Weltbestsellers „Unorthodox“, sagte in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“: „Ich bin der festen Überzeugung, dass es nur eine einzige legitime Lehre des Holocaust gibt, und das ist die absolute, bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle.“ Eine solch rechtsradikale Regierung wie Israel sie habe, könne „kein Partner sein für eine deutsche Regierung, die darauf baut, dass sie aus der Geschichte gelernt hat“, sagte der renommierte Historiker Moshe Zimmermann schon lange vor Beginn des Krieges. 

Die israelische Regierung ist in Teilen rechtsextrem

Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Berlin und Tel Aviv auch deshalb so kompliziert, weil die Regierung von Benjamin Netanjahu nicht nur rechts ist, sondern in Teilen sogar rechtsextrem – und damit den Werten der deutschen Regierung diametral entgegensteht. „Auf der einen Seite gibt es dieses ja ehrlich gemeinte Übernehmen von historischer Verantwortung, auf der anderen Seite hat man in Israel Politiker, die am anderen Ende des politischen und gesellschaftlichen Normenspektrums zu finden sind“, sagt Lintl. „Und das zusammenzubringen, ist schwer.“ Dies zeige sich nicht nur im Krieg selbst, sondern auch in dem, was nach dem Krieg möglich sein könnte. 

Der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben-Gvir ist vorbestraft wegen Anstiftung zu rassistischer Gewalt. Er lebt in einer illegalen Siedlung im besetzten Westjordanland und will, dass auch der Gazastreifen wieder von Israelis besiedelt wird. Der ultrarechte Finanzminister Bezalel Smotrich erklärt öffentlich, wenn Israel richtig vorgehe, werde es eine „Abwanderung“ von Palästinensern geben, „und wir werden im Gazastreifen leben“. Abwanderung? Oder eher ein bewusstes Vergraulen? So wie im Westjordanland? Erst in dieser Woche hat die Zivilverwaltung Israels Medienberichten zufolge 800 Hektar im Westjordanland zu israelischem Staatsland erklärt – trifft das zu, würde es die größte Aneignung seit über 30 Jahren darstellen. Bleibt die Regierung bei dieser Linie, wäre das nicht nur das Ende einer möglichen Zwei-Staaten-Lösung, sondern vielleicht sogar der letzte Funke, der noch fehlt, um den Nahen Osten endgültig in Brand zu setzen. „Den Palästinensern würde damit ein politisches Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen“, sagt Lintl. „Und das auf dem Land, das sie als ihres verstehen.“ Und das zu Recht: Völkerrechtlich betrachtet sind die israelischen Siedlungen illegal. Das hätte, so Lintl, die deutsche Politik stärker adressieren müssen. „Man kann nicht im Namen der historischen Verantwortung den Radikalismus hofieren“, unterstreicht der Nahost-Experte. 

Zwar ist auch in Israel selbst die Kritik an der Regierung laut. Woche für Woche gehen Menschen gegen Netanjahu und seine Minister auf die Straße. Doch eine Umfrage vom Januar zeigte zugleich, dass 87 Prozent der jüdischen Israelis die Opferzahlen im Gazastreifen für gerechtfertigt halten. „Ihr Trauma führt dazu, dass sich die Menschen gedanklich abschotten, sie sind ein Stück weit blind dafür, was gerade im Gazastreifen passiert“, sagt Peter Lintl. In der Konfliktpsychologie gebe es den Begriff der Eskalationsdominanz. Er besagt, dass ein Land bereit ist, immer härter zuzuschlagen als die Gegenseite – und diese das auch weiß. Das Signal ist: Greift uns nicht an, sonst werdet ihr es bereuen. Bislang war es Israel, das um seine Stärke wusste. „Am 7. Oktober hat es die Hamas geschafft, dass sich die Israelis als die Verletzlicheren fühlen, dass die andere Seite die Eskalationsdominanz hat“, sagt Lintl. Ausgeglichen werden soll das nun offenbar durch größtmögliche Härte. Zu großer Härte vielleicht? 

Im Krieg herrscht das Gebot der Verhältnismäßigkeit

Verhältnismäßigkeit ist ein wichtiger Maßstab in der Bewertung von Kriegen. Doch was ist verhältnismäßig, wenn eine Terrororganisation nicht nur ein Mal ein beispielloses Blutbad angerichtet hat, sondern Israel und dessen Bewohner seit Jahrzehnten mit Gewalt überzieht? Wer Israel verstehen will, muss seinen Blick weiten, darf nicht nur auf die aktuellen Kämpfe schauen. Dass der Gazastreifen überhaupt so streng abgeriegelt ist und es nur wenige Grenzübergänge gibt, liegt dran, dass radikale Palästinenser immer wieder Bomben und Selbstmord-Attentäter nach Israel schicken. Das Ziel der Hamas ist die Auslöschung des Staates Israel. Die Großstadt Tel Aviv muss permanent durch ein Raketenabwehrsystem, den „Iron Dome“, geschützt werden. Durch den 7. Oktober wurden die Sorgen maximal verstärkt. 

Und zur Wahrheit des Krieges gehört auch: Der Gazastreifen ist eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt, die Hamas nutzt Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen, um sich dort nicht nur zu verschanzen, sondern auch ihre Waffenarsenale zu lagern. Zivilisten werden als menschliche Schutzschilde eingesetzt, Hilfslieferungen von Hamas-Mitgliedern abgefangen und auf dem Schwarzmarkt teuer verkauft. Jede Feuerpause wird sie dazu nutzen, sich neue Waffen zu besorgen. „Komplex“ sei der Kampf, sagen selbst Israel-Kritiker. Doch was heißt das? Und: Was rechtfertigt das? „Es gehört sicher zur Fürsorgepflicht eines Staates, dass sich so etwas wie vom 7. Oktober nicht wiederholen kann“, sagt Lintl. „Die Frage ist aber auch: Ist das überhaupt möglich – und wenn ja, zu welchem Preis?“ Es ist nicht so sehr der Krieg an sich, der infrage gestellt wird, sondern die Art der Kriegsführung. Hat die Wahl der Waffen des Gegners für einen Rechtsstaat wirklich zur Folge, dass auch er selbst zu immer härteren Mitteln greifen darf? 

Peter Lintls Rat: Deutschland müsse lernen, über Israel zu sprechen. „Aktuell werden öffentlich Maximalpositionen vertreten und wer von ihnen abweicht, wird diskreditiert“, sagt er. „Auf der anderen Seite sehen wir einen wachsenden Antisemitismus, in Berlin werden Davidsterne auf Hauswände gesprüht.“ In einer solch schwierigen Gemengelage dürften aber nicht nur die Extreme der beiden Seiten den Ton bestimmen. Es müsse Raum geben, für palästinensische Stimmen, es müsse zugleich klar sein, dass die deutsche Erinnerungskultur nicht in Gänze verhandelbar sei. „Wenn wir uns mit unserer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen wollen, müssen wir daraus Werte ableiten. Wenn wir das nicht machen, ist das Reden von historischer Verantwortung bedeutungslos“, sagt er. „Denn ein guter Freund kann nur sein, wer einen eigenen Standpunkt hat.“

 
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