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Brüssel
Die EU-Osterweiterung ist eine Verpflichtung
Vor 20 Jahren erweiterte sich die Europäische Union und überwand die Spaltung des Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Plädoyer, endlich mehr Europa zu wagen.
Stefan Küpper
 |  aktualisiert: 03.05.2024 02:44 Uhr

Wer jemals daran gezweifelt hat, ob es richtig war, die Osterweiterung der EU zu vollziehen, der könnte vielleicht eine Reise nach Tallinn unternehmen. Wer zum Schloss Toompea spaziert und von dort oben, wo das demokratische Parlament seinen Sitz hat, über die Hauptstadt Estlands blickt, sieht gut, was sich hier im Nordosten der EU in den vergangenen 20 Jahren entwickelt hat. Doch wer hier steht, weiß auch: St. Petersburg, wo Putins Aufstieg zum Diktator Russlands begann, liegt gerade einmal 300 Kilometer entfernt. 

Es war auch die Angst vor dem imperialistischen Nachbarn, die Estland am 1. Mai 2004 zur EU (und unter den Schutzschirm der Nato) gezogen hat. Zehn Jahre zuvor, 1994, hatte es beim Hamburger Matthiae-Mahl einen Skandal gegeben. Putin, damals noch Vizebürgermeister von St. Petersburg, verließ erbost den Festsaal im Rathaus, nachdem der estnische Staatspräsident Lennart Meri den Russen vorgeworfen hatte, wieder nach der Vorherrschaft im Osten zu streben. 30 Jahre später steht die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas auf der Fahndungsliste des Kreml.

In der EU wurde ein Leben in Freiheit möglich

Der Austritt aus der Sowjetunion und der Eintritt in die Europäische Union hat sich für den kleinen baltischen Staat überaus gelohnt. Das gilt für Lettland, Litauen, Malta, Zypern, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn – was keiner besser weiß als Viktor Orbán selbst – genauso. Und es gilt für den Rest der EU. Die Spaltung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg wurde überwunden. Historisch ist das ein Wert an sich. Ein Leben in Freiheit wurde möglich. 

Zugleich ist die Osterweiterung eine Bereicherung – im Wortsinn. Vom regen Handel treibenden Binnenmarkt profitieren innerhalb der ökonomischen Großmacht EU bekanntlich alle. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche hat gerade bestätigt, dass die ostmitteleuropäischen Länder ihren ökonomischen Aufholprozess fortsetzen. Und das Ifo-Institut hat den hiesigen Skeptikern, die einst fürchteten, Arbeitende aus den neuen EU-Staaten könnten den Deutschen ihre guten Jobs wegnehmen, das Gegenteil aufgezeigt. Denn, so heißt es: Menschen von dort seien hier vor allem in Berufen tätig, die aufgrund niedriger Löhne oder ungünstiger Arbeitsbedingungen "für heimische Arbeitskräfte wenig attraktiv sind". Anders formuliert: Die Leute erledigen, was die Deutschen offensichtlich nicht tun wollen.

Macron und Scholz können im Mai zeigen, was sie für Europa noch erreichen wollen

Für die EU sollte der Jahrestag der Erweiterung mehr als nur Ansporn sein. Explizit für Deutschland und Frankreich. Der französische Präsident hat recht, wenn er in seiner zweiten großen Sorbonne-Rede davor warnt, Europa könne sterben. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz bisher wenig mehr als einen Tweet dazu veröffentlicht hat, in dem er die "guten Impulse" lobt, zeigt erneut, wie die Sprachlosigkeit im deutsch-französischen Verhältnis gerade den europäischen Fortschritt gefährdet. Kritiker werfen Macron zu Recht vor, er solle weniger reden und mehr (Waffen für die Ukraine) liefern. Trotzdem füllt er rhetorisch eine Lücke, die weder Angela Merkel noch Olaf Scholz zu schließen in der Lage waren und sind. Er spricht aus, was sein könnte. Ende Mai ist Macron auf Staatsbesuch in Deutschland. Dann haben er und Scholz Gelegenheit zu zeigen, dass sie gemeinsam für Europa noch etwas erreichen wollen und können, bevor es zu spät ist. Nicht zuletzt die ostmitteleuropäischen Staaten würden es ihnen danken. Vor allem das EU-Bewerberland Ukraine. 

 
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