
"Mach mit! Wende dich jetzt mit einer E-Mail an den Bundeskanzler und fordere ihn auf, aktiv zu werden und sich für Verhandlungen einzusetzen", fordert das Netzwerk Friedenskooperativezu den Ostermärschen an diesem Wochenende auf seiner Internetseite. Es geht um den Krieg in der Ukraine, und Olaf Scholz, so viel ist sicher, wird sich die elektronischen Briefe niemals anschauen. Die Aktion wirkt ein wenig naiv, ist in ihrer Hilflosigkeit gleichzeitig anrührend. Die Friedensbewegung scheint am Ende angekommen, wenn sie mangels einer kritischen Masse auf der Straße zu Mail-Protesten aufruft. 65 Jahre nach den ersten Ostermärschen wäre es jedoch verfrüht, die Friedensbewegten und ihre Ostermärsche im Ruhestand zu wähnen.
Krieg in der Ukraine dominiert Ostermärsche
Nachdem sich an Ostern 1958 in Großbritannien rund 10.000 Menschen aufmachten, um gegen den Einsatz von Atomwaffen zu demonstrieren, fand das Beispiel bald hunderttausende Nachahmerinnen und Nachahmer. Heute sind Veranstalter wie das Netzwerk Friedenskooperative froh, wenn ein paar zehntausend Menschen zusammenkommen.
Der Krieg in der Ukraine dominiert die Aufrufe zu den diesjährigen Ostermärschen und gleichzeitig zeigt er das Dilemma auf. Für Frieden in der Ukraine ist wohl jeder und jede. Aber der Weg dahin führt offenbar nur über eine Fortsetzung des Krieges. Klingt zynisch und ist schwer auszuhalten. Aber Militärstrategen gehen inzwischen davon aus, dass erst ein massiv gestiegener Leidensdruck die Regierungen auf ukrainischer wie russischer Seite zum Umdenken zwingen wird. Die Entwicklung des Krieges spricht für diese These, Verhandlungsversuche erstickten bislang im Ansatz.
Schon bald wird es große Manöver in Deutschland geben
Über diesen theoretischen Ansatz hinaus herrscht bei der Analyse des Ukraine-Krieges weitgehend Ratlosigkeit, und die hat sich auf die Friedensbewegungübertragen. Panzer und andere schwere Waffen will man einerseits nicht haben. Aber wie soll andererseits die Zivilbevölkerung geschützt werden? Kann es Frieden wirklich nur um den Preis geben, dass die Russen alle besetzen Gebiete zurückgeben? Solche und andere Fragen lähmen die Debatte in der Friedensbewegung, zerreißen sie aber nicht. Denn es gibt andere Themen, die wichtig werden.
Gerade haben die Regierungen in den USA und der EUgroße Manöver angekündigt. Bereits in zwei Wochen sollen annähernd 26.000 Soldatinnen und Soldaten üben, wie sie möglichst schnell auf eine russische Aggression gegen den Westen in Stellung gehen können. Panzer werden Waldwege zerpflügen, Militärkonvois die Straßen säumen und später mehr als 200 Kampfjets am Tag und in der Nacht für einigen Lärm sorgen. Plötzlich wird in unmittelbarer Nähe spürbar, was der Krieg in Europa für die Nachbarländer bedeutet. Die "Zeitenwende" besteht eben nicht nur aus wohlgesetzten Worten und einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro. Derweil eskaliert auch Russland weiter und hat beispielsweise angekündigt, taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren.
Die Themen des Kalten Krieges drängen wieder mit Macht nach vorn. Die Friedensbewegung hat ihre Verantwortung erkannt und führt die gesellschaftlich notwendige Debatte bereits, wenn auch erst in einem vergleichsweise kleinen Rahmen. Unter dem Druck der Ereignisse wird er sich erweitern, gleichzeitig können die Ostermärsche mit neuem Zulauf rechnen. Die Politik sollte sich darauf einstellen. E-Mails erreichen Olaf Scholz nicht. Hunderttausende auf den Straßen hingegen kann er nicht ignorieren.