Es ist ein Pokerspiel mit hohem Einsatz. Wenn sich die Vertreter der EU-Staaten an diesem Donnerstag zu ihrem Sondergipfel treffen, sind alle Augen auf einen Mann gerichtet: Viktor Orbán. Der ungarische Regierungschef hat es in seiner Hand, ob das Treffen in Brüssel zu einem Erfolg wird oder ob Europa einmal wieder in einen notdürftig zusammengezimmerten Plan B gezwungen wird. Schon seit Wochen glühen im Hintergrund die diplomatischen Drähte. Aus gutem Grund: Wenn es den Europäern nicht gelingt, die dringend benötigten Finanzhilfen für die Ukraine für die kommenden Jahre zu beschließen, wäre das kurz vor dem zweiten Jahrestag des Kriegsbeginns ein Schlag in die Magengrube für alle Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie müssten für Orbáns Spielschulden bezahlen.
Der Ungar zockt. Er will den Moment der Entscheidung ausnutzen, um für sich und seine eigenen Interessen einen „Deal“ auszuhandeln. Sein Verhalten ist angesichts des hohen Blutzolls nicht nur unter moralischen Gesichtspunkten schäbig. Es ist politisch höchst gefährlich. Denn er belastet damit auch jene Institution, die er geschickt für seine Spielchen nutzt. Wer zu Beginn des dritten Kriegsjahres immer noch nicht die Gefahr erkannt hat, die von dieser Front im Osten ausgeht, wird seiner europäischen Verantwortung nicht gerecht.
Die Autokraten bauen auf die Schwäche des Westens
Selbst wenn es den anderen EU-Staaten gelingen sollte, etwa über einen Sonderfonds doch noch Gelder für Kiew einzusammeln: Es wäre eine Botschaft, die nicht nur Putin jubeln lassen würde, sondern auch alle anderen Autokraten dieser Welt, die ihre eigene Bedeutung gerne darin bemessen, wie groß ihr „Reich“ ist. Peking wartet nur auf den passenden Moment, sich Taiwan einzuverleiben. Allein die wirtschaftlichen Folgen hätten die Ausmaße eines Tsunamis.
Ohnehin ist der Krieg in der Ukraine längst zu einem Symptom für eine viel größere Entwicklung geworden. Denn hinter den Kämpfen, steckt eine Tendenz, die uns als Profiteure der westlichen Ordnung große Sorgen machen muss. Die Weltordnung ist dabei, sich zu verschieben. Weg von der westlichen Dominanz, hin zur Dominanz von Herrschern, die ganz andere Werte pflegen als jene, die wir für ehrenwert halten. Nordkorea, Russland, China, afrikanische Staaten, der Iran – sie alle sehen ihre Zeit gekommen. Nicht umsonst ist diese Achse inzwischen fest miteinander verschweißt. „Nordkorea liefert verlässlicher an Russland als der Westen an die Ukraine“, klagte jüngst der ukrainische Außenminister. Es ist eine bittere Bilanz. Das Kalkül der Polit-Rowdys ist knallhart: Sie bauen darauf, dass westliche Demokratien durch ihre inneren Reibungsverluste am Ende eben doch zu schwach sind, um sich im Ringen der Großmächte und derer, die es werden wollen, durchzusetzen.
Der Ukraine-Krieg wird noch lange andauern
Die unbequeme Wahrheit heißt: Dieser Krieg wird uns noch lange fordern. Schwäche können wir uns schlicht nicht leisten. Vielfach ist davon die Rede, dass 2024 zum Schicksalsjahr werden könnte. Womöglich ist selbst das zu kurz gedacht. Irgendwie würde sich die Ukraine über die nächsten Monate retten, mal hier, mal dort die Geldhähne anzapfen. Doch 2025 – womöglich noch mit einem dann amtierenden US-Präsidenten Trump – sähe es dann endgültig düster aus. Selenskyj müsste die Notenpresse anwerfen, um zumindest alle militärischen Mittel aufzukaufen, die zu bekommen sind. Doch die eigene Wirtschaft würde er damit zerstören. Eine lose-lose-Situation wie aus dem Bilderbuch.
Europa benötigt dringend einen Plan. Statt sich von Russland treiben zu lassen und das Feilschen um Waffen und Geld mit der Ukraine öffentlich auszutragen, muss sie eine Strategie entwickeln, in der das westliche Bündnis sich klare Ziele setzt. Die Ukraine in die EU einzubinden war ein erster Schritt in diese Richtung – er zeigt Putin, dass man sich in der Krise nicht im bürokratischen Kleinklein verhakt, sondern bereit ist, mutige Entscheidungen zu treffen. Weitere Schritte müssen folgen.