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Ampel-Koalition
SPD lehnt Lindners Grundsatzpapier ab – Söder fordert Neuwahl
Die rot-grün-gelbe Koalition ist uneins, wie die Wirtschaft angekurbelt werden soll. In dieser schwierigen Phase kommt ein neues Papier. Ist das die Scheidungsurkunde für die Ampel?
Fordern Brandmauer gegen Rechts: Lars Klingbeil und Saskia Esken.jpeg       -  Die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil lehnen die Vorschläge des Bundesfinanzministers ab.
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa (Archivbild) | Die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil lehnen die Vorschläge des Bundesfinanzministers ab.
Redaktion
 |  aktualisiert: 06.11.2024 02:41 Uhr

 Die SPD-Bundesvorsitzenden haben die von Finanzminister Christian Lindner (FDP) geforderten Maßnahmen für eine Wirtschaftswende zurückgewiesen. «Durch die Bank sind diese Punkte, die er dort aufgezählt hat, in der Koalition nicht zu verwirklichen», sagte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken am Rande einer SPD-Dialogveranstaltung in Hamburg. Auch der SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil lehnte die Ideen des FDP-Politikers ab.

Esken sagte, Lindner habe in seinem Grundsatzpapier nur die Position der FDP deutlich gemacht - «nicht innerhalb der Koalition, sondern im Allgemeinen.» Auf die Regierungsarbeit der Ampel werde das Papier keinen Einfluss haben. «Die Motivation ist möglicherweise da, aber es wird nicht gelingen», sagte Esken. 

SPD will «alte Vorschläge» Lindners nicht mitmachen 

SPD-Chef Lars Klingbeil sagte, jeder habe das Recht, Vorschläge zu machen, wie man Arbeitsplätze und die wirtschaftliche Stärke Deutschlands sichere. Das habe Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auch mit seinem Wirtschaftspapier gemacht. «Jetzt hat Christian Lindner das gestern auch gemacht und das ist völlig in Ordnung», sagte Klingbeil.

Lindner wisse aber auch, dass Vorschläge nicht die Lösung für die wirtschaftlichen Probleme sein könnten, bei denen es darum gehe, «die Reichen werden jetzt reicher» und die arbeitende Mitte solle weniger Lohn haben, länger arbeiten und später weniger Rente bekommen. «Das wird die SPD an keiner Stelle mitmachen», sagte Klingbeil. 

Nach dem Bekanntwerden eines Grundsatzpapiers von FDP-Chef Christian Lindner zur Wirtschaftspolitik fordert CSU-Chef Markus Söder eine vorgezogene Bundestagswahl. „Das Einzige, was jetzt zählt, sind Neuwahlen - sofort“, sagte der bayerische Ministerpräsident der Bild. „Es ist vorbei: Das Totenglöckchen der Ampel läutet. Eine Regierung, die gegeneinander Papiere verschickt, ist handlungsunfähig und eine Blamage für unser Land. Es ist Zeit, den Stecker zu ziehen und das unwürdige Schauspiel zu beenden. Jeder Tag länger schadet Deutschland“, sagte Söder.

Sollte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nicht selbst die Kraft haben, seine Koalition zu beenden, müsse Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einschreiten, forderte der CSU-Chef weiter. Auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte der Bild: „Wir können uns diese Wackelregierung nicht einen Tag länger leisten.“ CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt rechnet mit einem Zusammenbrechen des Regierungsbündnisses in den kommenden Wochen: „An Nikolaus ist Ampel aus! Das sind die letzten Zuckungen einer restlos kaputten Ampel. Jeder weitere Ampel-Chaos-Tag vergrößert den Schaden und ist eine Blamage für Deutschland.“

Grundsatz-Papier von Christian Lindner heizt Streit in der Ampel an

Das Grundsatzpapier von Finanzminister und FDP-Chef Lindner über eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik war am Freitag an die Öffentlichkeit gelangt. In dem Papier wird etwa als Sofortmaßnahme die endgültige Abschaffung des Solidaritätszuschlags auch für Vielverdiener gefordert, ein sofortiger Stopp aller neuen Regulierungen sowie ein Kurswechsel in der Klimapolitik.

„Deutschland braucht eine Neuausrichtung seiner Wirtschaftspolitik“, hieß es darin. Diese solle grundsätzlicher Art sei. Das Papier hat den Titel „Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für mehr Wachstum und Generationengerechtigkeit.“ Es liegt der Deutschen Presse-Agentur vor.

In dem Papier ohne Datum wird eine „Wirtschaftswende“ gefordert mit einer „teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen“, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden. Die deutsche Wirtschaft ist in einer Wachstumskrise. Eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik könne das Vertrauen von Unternehmen und privaten Haushalten stärken.

Ende der Ampel-Regierung? Es ist ein Herbst der Entscheidungen

Die FDP fordert seit längerem eine „Wirtschaftswende“ und hat den „Herbst der Entscheidungen“ ausgerufen. Auch Forderungen wie eine vollständige Soli-Abschaffung sind grundsätzlich bekannt. Der Zeitpunkt des neuen Papiers ist aber brisant.

Erst vor anderthalb Wochen hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erneut einen milliardenschweren, schuldenfinanzierten Staatsfonds vorgeschlagen, um Investitionen von Firmen zu fördern. Die FDP lehnt dies unter Verweis auf die Schuldenbremse ab.

Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zu einem Industriegipfel eingeladen, zu dem aber weder Habeck noch Lindner eingeladen wurden. Die FDP-Fraktion hatte eine Art Gegengipfel mit Verbänden veranstaltet. Scholz plant - ebenso wie die FDP - noch weitere Treffen in etwa dem bisherigen Format. Am Ende will der Kanzler einen Pakt für die Industrie erreichen, das Ergebnis soll noch vor Weihnachten stehen, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit ankündigte. Erst im Juli hatte die Bundesregierung eine „Wachstumsinitiative“ angekündigt. Das Paket mit vielen Maßnahmen ist aber noch nicht umgesetzt worden.

Verschiedene Maßnahmen im Lindner-Papier gefordert

Konkret ist in Lindners jetzigem Papier von einem sofortigen Moratorium zum Stopp aller neuen Regulierungen die Rede. Neue Gesetzesvorhaben sollten entweder ganz entfallen oder, wo dies nicht möglich sei, so ausgestaltet sein, dass Bürokratie und Regulierung durch das Vorhaben sinken und keinesfalls steigen. Genannt werden in diesem Zusammenhang zum Beispiel Pläne von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für ein Tariftreuegesetz sowie das Lieferkettengesetz.

Weiter heißt es, als Sofortmaßnahme sollte der Solidaritätszuschlag, der überwiegend von Unternehmen, Selbstständigen, Freiberuflern sowie Hochqualifizierten gezahlt werde, entfallen. Er sollte in einem ersten Schritt im Jahr 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf 3 Prozent abgesenkt werden. In einem zweiten Schritt könnte er im Jahr 2027 dann vollständig entfallen. Der Soli wurde für 90 Prozent der Steuerzahler bereits abgeschafft.

Weiter heißt es im Papier, nationale müssten durch europäische Klimaziele ersetzt werden. „Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen.“ Deutschland solle auf europäischer Ebene insbesondere die Abschaffung der Regulierungen zur Energieeffizienz, Gebäudeenergieeffizienz und der Flottengrenzwerte für Autokonzerne durchsetzen.

Kehrtwende bei Heizungen

Bei Angleichung der nationalen und europäischen Ziele könnten die Bundesförderung effiziente Gebäude und die Bundesförderung effiziente Wärmenetze reduziert oder zeitlich gestreckt werden, heißt es im Papier. Im Gebäudeenergiegesetz - oft als Heizungsgesetz bezeichnet - könne der Zeitpunkt, ab dem Heizungen vollständig klimaneutral sein müssen, um fünf Jahre verschoben werden, der Anteil erneuerbarer Energien dabei von 65 Prozent bei neuen Heizungen zunächst abgesenkt und erst später erhöht werden. Das Förderprogramm Klimaschutzverträge könnte ebenfalls weitgehend entfallen - das zielt auf eine Maßnahme Habecks.

Als wegweisend für den Fortbestand der Koalition aus SPD, Grünen und FDP gilt die sogenannte Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses, die für den 14. November geplant ist. Dort wird über den Haushalt 2025 entschieden. Spekulationen über eine vorzeitige Auflösung der Ampel-Koalition wies Regierungssprecher Hebestreit am Freitagmittag - vor Bekanntwerden des neuen Lindner-Papiers - zurück. „Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendwer dabei ist, sich in die Büsche zu schlagen“, sagte Hebestreit in Berlin. Er machte deutlich, „dass man konstruktiv die nächsten knapp elf Monate bis zum regulären Wahltermin für die nächste Bundestagswahl miteinander zusammenarbeiten wird“.

Im Papier Lindners ist mit Blick auf bestehende Milliardenlücken im Haushaltsentwurf von der Notwendigkeit einer weiteren Senkung der Ausgaben die Rede. Der Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 2025 und der Finanzplan bis 2028 unternähmen Schritte zur „quantitativen Normalisierung und qualitativen Verbesserung des Bundeshaushalts“. Mit Blick auf die gesenkte Konjunkturprognose und die trübere Steuerschätzung heißt es, diese Schritte seien nicht ausreichend. Im Papier heißt es, der höhere Verschuldungsspielraum durch die Anpassung der sogenannten Konjunkturkomponente der Schuldenbremse müsse ausschließlich zum Ausgleich der Mindereinnahmen verwendet werden.

Migrationspolitik und Bürgergeld

Die geplante Subvention für Intel sollte nicht nur verschoben werden, sondern ganz entfallen, heißt es im Papier. Die bisher gebundenen Mittel von insgesamt 10 Milliarden Euro könnten aus dem Klima- und Transformationsfonds entnommen werden - das ist ein Sondertopf des Bundes. Der kriselnde Chipkonzern Intel hatte den Bau eines Werks in Magdeburg verschoben.

Im Papier ist die Rede von einer „Wende in der Asyl- und Arbeitsmarktpolitik“. Durch eine niedrigere Zahl der Asylerstanträge fielen die Zahlungen an Länder und Kommunen zur Unterstützung durch den Bund geringer aus.

Die Bürgergeld-Regelsätze seien 2024 überproportional gestiegen. „Sie liegen im Jahr 2025 weiter über dem Bedarf und sollten daher durch die Abschaffung der ‚Besitzstandsregelung‘ abgesenkt werden, um Arbeitsanreize zu stärken.“ Weiter heißt es im Papier, Abschläge bei frühzeitigem Renteneintritt sollten angepasst werden.

„Nebelkerze“ und „neoliberale Phrasendrescherei“: So reagieren SPD und Grüne

Aus der SPD-Bundestagsfraktion kam laute Kritik an dem Konzept. Der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Rosemann, sagte dem Tagesspiegel: „Wir brauchen jetzt keine Papiere, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben. Vor allem brauchen wir keine Opposition in der Regierung.“ Der SPD-Abgeordnete Nils Schmid sprach von „neoliberaler Phrasendrescherei“. Die FDP bleibe Antworten auf die drängenden Fragen schuldig, etwa wie Industriearbeitsplätze bewahrt und der Industriestrompreis gesenkt werden könnten.

SPD-Generalsekretär Matthias Miersch enthielt sich einer inhaltlichen Bewertung der Vorschläge von Lindner, der auch Finanzminister ist. „Wichtig ist jetzt, dass der Prozess konstruktiv und lösungsorientiert von allen Beteiligten begleitet wird“, sagte Miersch den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Grünen-Chef Omid Nouripour äußerte sich ebenfalls zurückhaltend: „Wir Grüne sind jederzeit bereit, ernst gemeinte Vorschläge der Koalitionspartner zum Wohle unseres Landes zu diskutieren“, sagte er dem Nachrichtenportal t-online und den Funke-Zeitungen. „Zum Ergebnis kommt man am Ende dann, wenn die Vorschläge der Ernsthaftigkeit der Lage gerecht werden.“

Deutlicher wurde der Vize-Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Andreas Audretsch: „Das Papier ist eine Nebelkerze. Wichtiger wäre es, dass sich der Finanzminister um den Haushalt kümmert.“ Zum Haushalt für 2025 ist Mitte November eine entscheidende Sitzung des Haushaltsausschusses des Bundestags. Es müssen Milliardenlücken geschlossen werden.

Neues Lambsdorff-Papier?

Von Beobachtern im politischen Berlin wurden Vergleiche gezogen zu einem Konzept des damaligen Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff (FDP) in der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD). Das Papier aus dem Jahr 1982 machte eine Reihe von Vorschlägen für eine „Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ - und ist als „Scheidungsbrief“ in die Geschichte eingegangen. Wenige Tage später, am 1. Oktober 1982, wurde Helmut Kohl (CDU) mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zum neuen Bundeskanzler gewählt.

Der finanz- und haushaltspolitische Sprecher der CSU im Bundestag, Sebastian Brehm, nannte Lindners Grundsatzpapier „Ausdruck nackter Verzweiflung über eine ausweglose Finanzlage und eine desaströse Lage seiner Partei“. Lindner und die FDP seien aber Teil und Mitverursacher der Probleme, die das Land quälten.

 
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