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Kingston
Wo Kriminelle Politiker sind und umgekehrt: Haiti versinkt im Chaos
Seit Jahren ist die Sicherheitslage in dem Karibikstaat immer schlechter geworden. Nun scheinen die kriminellen Banden ein politisches Ziel erreicht zu haben.
Gewalt in Haiti.jpeg       -  Ein bewaffnetes Mitglied der Bande G9 patrouilliert an einer Straßensperre in Port-au-Prince, Haiti. Mächtige Banden wollen die Macht übernehmen.
Foto: Odelyn Joseph, dpa | Ein bewaffnetes Mitglied der Bande G9 patrouilliert an einer Straßensperre in Port-au-Prince, Haiti. Mächtige Banden wollen die Macht übernehmen.
Sandra Weiss
 |  aktualisiert: 17.03.2024 02:39 Uhr

Mal trägt der mächtigste Mann Haitis einen Tarnoverall und eine kugelsichere Weste, mal einen Anzug mit Krawatte. Mit der Schnellfeuerwaffe posiert er in beiden Fällen gerne. Jimmy Chérizier ist mal Krimineller, mal Politiker in einem Land, in dem beides nicht sauber zu trennen ist. „G9 Familie und Verbündete“ nennt sich seine Truppe, eine wechselhafte Allianz von Banditen, die das karibische Land seit Monaten in die Zange nehmen. Nun, wo das Chaos am größten ist, kann der 47-jährige gedrungene Mann mit dem rhetorischen Talent eines Demagogen endgültig die Macht übernehmen in dem armen Karibikstaat: Interims-Premierminister Ariel Henry sitzt seit Tagen in Puerto Rico fest, es gibt keinerlei politische Führung mehr. Das Land steht am Abgrund. Banden kontrollieren große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince. Sie morden und plündern, blockieren den Hafen, den Flughafen und die wichtigsten Ausfallstraßen. Zehntausende Menschen sind auf der Flucht vor der Gewalt. 1,8 Millionen bekommen nicht genug zu essen, warnte das katholische Hilfswerk Misereor.

Kriminelle Banden kontrollierten nach Angaben der Vereinten Nationen schon vor Beginn der aktuellen Gewaltwelle etwa 80 Prozent von Port-au-Prince. Seit Ende Februar ist die Lage vollends eskaliert, inzwischen gilt ein landesweiter Ausnahmezustand. Auch Haitis Polizei ist in Auflösung begriffen. Viele Polizisten sind desertiert, andere wurden ermordet, manche verweigern die Befehle ihrer Vorgesetzten, da sie nicht mehr als Kanonenfutter dienen wollen. Und der Opposition und internationalen Gemeinschaft läuft die Zeit davon. Denn vor Ort baut Chérizier seine Unterstützerbasis aus. „In Haiti sitzen ein paar oben, und die meisten unten. Die oben versklaven uns und haben vor, das auch die nächsten Jahrzehnte zu tun“, sagte „Barbecue“, wie er in Haiti genannt wird, am Wochenende vor einer Menschenmenge. 

Haiti-Krise: Der Kriminelle Chérizier verführt die Armen mit Geschenken

Chérizier stammt selbst aus einer armen Familie. Er ist der jüngste von acht Geschwistern, sein Vater starb, als er fünf Jahre alt war. Seine Mutter verkaufte auf der Straße Brathähnchen, daher kommt offenbar sein Spitzname Barbecue. „Damit ist jetzt Schluss, wir haben eine Bewusstseinsrevolution gestartet, und deshalb nennen sie uns Banditen“, rief Chérizier. 

Ganz im Stile der kolumbianischen und mexikanischen Drogenmafia verführt er die Armen mit Geschenken. Er bezahlt Essenspakete, Beerdigungen und Schulstipendien. Auf Wandmalereien in den Armenvierteln wird er mit dem argentinischen Guerillero Ernesto „Che“ Guevara verglichen. In Interviews posiert er als gottesfürchtiger karibischer Robin Hood und sieht sich in den Fußstapfen des kubanischen Revolutionsführers Fidel Castro Fidel Castro.

2022 bezeichnete Chérizier seine bunt zusammengewürfelte Armee, der zum Teil auch Kinder angehören, als „eine soziopolitische Struktur und Kraft, die im Namen der Schwachen kämpft“. Nichts davon entspricht der Realität. Menschenrechtler haben ihn seit Jahren im Visier, die USA und die UN haben ihn sanktioniert. Chérizier arbeitete bis 2018 für ein Sondereinsatzkommando der Polizei, das in eine Reihe schwerer Verbrechen verwickelt war. Darunter ein Massaker in einem Slum namens La Saline, bei dem 71 Menschen getötet, sieben Frauen vergewaltigt und 400 Häuser in Brand gesetzt wurden. Barbecue bestreitet seine Verantwortung dafür. 

„Er ist ein krimineller Geschäftsmann“

Als Chérizier auf internationalen Druck hin seinen Job bei der Polizei verlor, machte er nahtlos dieselbe Schmutzarbeit für politische Auftraggeber und auf eigene Rechnung weiter – nur eben mit der G9. „Er ist ein krimineller Geschäftsmann“, sagt Louis-Henri Mars, Direktor der haitianischen gemeinnützigen Organisation Lakou Lapè. Die G9 kontrolliert einige der größten Slums von Port-au-Prince entlang der wichtigsten Ausfallstraßen. Dadurch kann Chérizier jederzeit die Hauptstadt isolieren. Seine Spezialität sind neben Entführungen auch Angriffe auf den Hafen, die Raffinerie, Schulen und Krankenhäuser, um das Land lahmzulegen oder Geschäftsleute zu erpressen. 

Todesschwadrone sind nichts Neues in Haiti, schon die Diktatorenfamilie Duvalier bediente sich ihrer. Doch Barbecue will offenbar aus deren Schatten heraustreten und die große politische Bühne betreten. Bei den offiziellen Verhandlungen in Jamaika sitzt er nicht mit am Verhandlungstisch, und für ihn ist auch kein Platz in der Übergangsregierung vorgesehen, verlautbarte es aus Delegationskreisen. Doch so lange die neue Übergangsregierung, sofern sie das Licht erblickt, de facto vor Ort nicht durchgreift und für Sicherheit sorgt, wird sie ein Papiertiger bleiben. Der Machtpoker um Haiti ist mit Henrys Rücktritt noch längst nicht entschieden.

 
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