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Tel Aviv
Netanjahus Justizreform wird auf Eis gelegt
Israels Rechtsregierung zeigt Wirkung. Ministerpräsident Netanjahu entlässt den Verteidigungsminister. Angesichts von Protesten und Streiks wird die Reform ausgesetzt.
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Foto: Ilia Yefimovich, dpa | Tausende Demonstranten protestieren am Montag vor dem Parlament in Jerusalem gegen die Justizreform von Premierminister Benjamin Netanjahu zur Überarbeitung der Justiz.
Pierre Heumann
 |  aktualisiert: 11.03.2024 12:40 Uhr

Benjamin Netanjahu hat in den vergangenen drei Monaten, in denen er an der Spitze der rechtsreligiösen Koalition steht, das Land in eine tiefe Krise gesteuert. Mit seiner Justizreform hat der Ministerpräsident die wichtigsten Stützen zum Wanken gebracht: Die einheimische High-Tech-Industrie, den Sicherheitsapparat aus Militär und Geheimdienst und nicht zuletzt die Beziehungen zum wichtigsten Verbündeten. Die Proteste im Land gegen das Vorhaben sind enorm. Nun hat Netanjahu reagiert: Am Abend kündigte er einen vorübergehenden Stopp der Reform an.

„Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen“, sagte Netanjahu. Die Pläne werden damit frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt. „Wir befinden uns mitten in einer Krise, die unsere essenzielle Einheit gefährdet“, sagte Netanjahu. Er warnte vor einem Bürgerkrieg, zu dem es nicht kommen dürfe. Alle müssten verantwortlich handeln, sagte er. Deshalb strecke er seine Hand zum Dialog aus.

"King Bibi", wie er einst genannt wurde, hatte vor elf Jahren die Bedeutung eines starken und unabhängigen Obersten Gerichtshof betont. Eine solche Institution mache den Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien aus, sagte Netanjahu damals. Doch nun versucht seine Koalitionsregierung, die Justiz in die Schranken zu weisen. Kritiker bezeichnen diesen Kurs als brandgefährlich. Da Israel nicht über eine Verfassung verfüge, ginge der Kompass für Recht und Unrecht verloren, Minderheit müssten zudem befürchten, ihren Schutz zu verlieren.

Immer mehr Soldaten verweigern den Gehorsam

Die Justizreform gefährde die Sicherheit Israels, warnte Verteidigungsminister Yoav Galant. Die Zahl der Soldaten und Offiziere, die keinem "Diktator" - gemeint ist Netanjahu - gehorchen wollen, sei beängstigend und nehme zu, fasste er die Meldungen zusammen, die sein Ministerium aus den Streitkräfte erreichen. Netanjahu reagierte umgehend mit der Entlassung des Verteidigungsministers. Kaum hatte sich diese Meldung am Sonntagabend verbreitet, strömten im ganzen Land erneut mehrere hunderttausend Demonstranten auf die Straße.

Am Montag versank das Land im Chaos. Demonstranten legten den Verkehr lahm, Krankenhäuser reduzierten ihren Dienst, Gewerkschaften, aber auch Arbeitgeber riefen zum Generalstreik auf. Am Montag entfaltete der Aufruf Wirkung: Auf dem Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv wurde der Flugbetrieb eingestellt, Geschäfte blieben geschlossen, sogar israelische Botschaften im Ausland machten dicht. 

Netanjahu, der das Land in drei Amtszeitenwährend insgesamt 15 Jahren regiert hat, hat die Kontrolle über sein Land weitgehend verloren. Er stützt seine Koalition auf einen Block von ultra-religiösen und rechtsradikalen Parteien, die zusammen über mehr Einfluss verfügen, als die überwiegend laizistische Likud-Partei des Regierungschefs. 

Verdacht der Korruption und Bestechung gegen Netanjahu

Netanjahu hat sich in eine politische Sackgasse manövriert: Nicht wenige seiner Bündnispartner wollen Israel mittelfristig zu einem Gottesstaat machen. Allerdings hat auch der Ministerpräsident selbst ein starkes Interesse daran, die Befugnisse der seiner Meinung nach linke Justiz-Elite zu beschneiden. Netanjahu muss sich wegen des Verdachts auf Korruption und Bestechung verantworten. Die Vorwürfe seien "konstruiert", sagt er und behauptet, dass es das Ziel der Richter sei, ihn zu stürzen. Die Justizreform hätte unter anderem zur Folge, dass die Regierung die vollständige Kontrolle über die Nominierung der Richter am Obersten Gerichtshof erlangt. Das würde der Regierung eine kaum zu kontrollierende Macht verleihen. Netanjahu wäre - falls er tatsächlich verurteilt werden würde - vor einer Gefängnisstrafe sicher.

Am Anfang seiner Karriere galt "Bibi" noch als effektiver Modernisierer des Landes. Dass die Wirtschaft jetzt eine High-Tech-Weltmacht ist, ist nicht zuletzt seiner damaligen Liberalisierungspolitik zu verdanken. Doch der heutige Ministerpräsident sei nicht der Netanjahu, dem er früher gedient habe, sagt der ehemalige Mossad-Chef Efraim Halevy. Früher sei Netanjahu stets "sehr vorsichtig", ja sogar "zögerlich" gewesen. Er habe Risiken gescheut. So habe er zum Beispiel nichts von Plänen wissen wollen, iranische Atomanlagen anzugreifen, sagt sein ehemaliger Sicherheitsberater. Dass derselbe Politiker nun Israels Wohlstand und Standportqualitäten aufs Spiel setze, sei für ihn völlig unverständlich.

Netanjahu lässt frühere Führungsqualitäten heute vermissen

Wie ist nun sein Einlenken zu deuten? Polizeiminister Itamar Ben-Gvir hatte zuvor mitgeteilt, er habe sich mit Netanjahu auf eine Verschiebung der Reform verständigt. Im Gegenzug soll eine „Nationalgarde“ unter der Führung des rechtsextremen Politikers eingerichtet werden. Was dies konkret bedeutet, war zunächst unklar. Medienberichten zufolge soll Ben-Gvir mit Rücktritt gedroht haben, sollte Netanjahu nicht an den Reformplänen festhalten.

 
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