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Maiduguri
Inside Boko Haram: Unser Reporter traf Aussteiger aus der Terror-Organisation
Boko Haram gehört zu den weltweit brutalsten Terror-Organisationen. Aussteiger erzählen in Hinterhöfen und Autos über Morde, Plünderungen und das Thema Reue.
Außenministerin Annalena Baerbock besucht Nigeria.jpeg       -  Außenministerin Annalena Baerbock besucht Nigeria Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin spricht mit Frauen und Kindern im Camp Bulumkutu. Hier werden frühere Kämpfer der Terrorgruppe Boko Haram sowie deren Frauen und Kinder integriert. +++ dpa-Bildfunk +++AGENTURBILD DPA picture-alliance.com picture alliance dpa-archiv dpa-langzeitarchiv
Foto: Annette Riedl | Außenministerin Annalena Baerbock besucht Nigeria Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin spricht mit Frauen und Kindern im Camp Bulumkutu.
Christian Putsch
 |  aktualisiert: 11.03.2024 12:21 Uhr

Der Mann, der den Tod Tausender mit zu verantworten hat, der Millionen jahrelang in Angst versetzte, fürchtet nun selbst um sein Leben. Und jammert, dass er nicht zur Ruhe kommt. Denn das Kopfgeld, das auf ihn ausgesetzt wurde, raubt dem ehemaligen Terroristen den Schlaf. 

Die Nächte verbringt Mallam Bana Musa’id mit Gebeten. Auf dem rechten Ohr ist die ehemalige Nummer vier in der Hierarchie der nigerianischen Islamistengruppe Boko Haram taub, Folge eines knapp überlebten Granateneinschlags. Das linke aber horcht aus seinem Zelt in die Dunkelheit des Lagers, in dem er seit sechs Monaten deradikalisiert wird. Sind das wie er wirklich allesamt Aussteiger, die hier am Rande der Millionenstadt Maiduguri untergebracht sind? Oder hat es jemand auf sein Leben abgesehen?

Das Kopfgeld auf den ehemaligen Boko-Haram-Terroristen beträgt 12.000 Euro

Wer ein Foto seines toten Körpers zusammen mit seinem Handy als Beleg abliefert, bekommt sechs Millionen Naira ausgezahlt, umgerechnet rund 12.000 Euro. So hat es Boko Haram verkündet, nachdem Musa’id im Radio und über die sozialen Medien die verbliebenen Terroristen dazu aufgerufen hatte, die Waffen niederzulegen. Der ehemalige Terrorist ist damit als Verräter selbst ins Visier der Terroristen geraten.

Seit eineinhalb Jahrzehnten versucht Boko Haram im Nordosten Nigerias ein Kalifat herbeizubomben – eine eigenständige islamische Theokratie auf Grundlage einer absurd brutalen Interpretation der Scharia. Dafür haben Terroristen wie Musa’id 35.000 Menschen getötet – einige davon klare Kalifatsgegner, die Mehrheit willkürliche Opfer. Und sie haben in Kauf genommen, dass gut 300.000 weitere an indirekten Folgen wie Ernteausfall und Wassermangel starben. Es ist eine der brutalsten Bilanzen aller Dschihadisten weltweit.

Militärisch konnte Boko Haram trotz enormer militärischer Bemühungen zwar geschwächt, aber nicht völlig besiegt werden. Deshalb setzt Nigeria verstärkt auf ein umfangreiches und umstrittenes Amnestieprogramm, das inzwischen auch den meisten Anführern Straffreiheit verspricht. Musa’id hat es angenommen, wie Tausende weitere Aussteiger. Es ist Nachmittag und der Ex-Terrorist bereit zu einem ersten Treffen, in dem er so ausführlich wie wenige vor ihm aus dem Innenleben von Boko Haram berichten wird. 

Er steht vor dem Lager in Maiduguri. Die Soldaten haben ihn heute rausgelassen, ganz gewiss ist das vorher nie. Ein schlanker Mann, der wie fast alle hier Shadda-Umhang und traditionelle Rawaram-Mütze trägt. Das Gesicht ist faltenlos, nur der graue Bart deutet auf sein Alter von 52 Jahren hin. Der Islamist, der den Justiz-Sektor des Boko-Haram-Kalifats und Hunderte Hinrichtungen organisierte, könnte kaum unscheinbarer sein.

Musa’id verwaltete weite Teile der Boko-Haram-Justiz

Ein Mittelsmann hat einen Hinterhof für das Interview arrangiert. Schweigen während der Fahrt. Auf dem Smartphone schaut Musa‘id BBC-Nachrichten über die TikTok-App. Das Auto steuert auf den Hof, Musa’id will im Auto bleiben. Und reden. Es geht um seine Radikalisierung, Plünderungen, Entführungen, Amputationen, Geldflüsse, aber auch seine wachsenden Zweifel an Boko Haram. Wie aus ihm, einem Verkäufer von Kosmetik-Artikeln, ein Massenmörder wird. Und wie aus dem Massenmörder jetzt wieder ein gewöhnlicher Verkäufer werden soll.

Musa’id geht als Kind in eine erzkonservative Koranschule und gehört im Jahr 2008 zu den frühen Anhängern von Boko-Haram-Gründer Ustaz Mohammed Yusuf. Bei seiner Radikalisierung spielt eine Rolle, dass die Gerichte überwiegend die staatlichen Gesetze anwenden, anstelle der im Norden parallel geltenden Scharia– eine damals schon seit Jahrzehnten schwelende Diskussion. Das Klischee des gewehrschwingenden Jungterroristen erfüllt er nicht. Musa’id wird zu einem, der die Kommandos gibt, sich die Finger nicht selbst blutig macht. Mit Mitte 30 zählt er damals zu den älteren und gebildeteren, steigt schnell in der Hierarchie auf.

Die ersten Waffen kaufen die Terroristen im Nachbarland Tschad. Genug für die ersten Plünderungen von Polizei- und Armeestützpunkten und damit den Ausbau des Waffenarsenals. Dorf für Dorf wird unter Kontrolle gebracht, im Jahr 2015 beherrscht das auf rund 12.000 Männer angewachsene Islamisten-Heer ein Gebiet der Fläche Belgiens. 

Musa’id verwaltet weite Teile der Boko-Haram-Justiz, ist Bindeglied zwischen den Scharia-Richtern von Boko Haram und dem damaligen Anführer Abubakar Shekau. Jedes Todesurteil trägt er ihm vor, von seiner Bewertung hängt ab, ob Shekau eine Begnadigung ausspricht. Die Dorf-Plünderungen von Boko Haram werden freilich nicht bestraft. Die Kämpfer bekommen keinen Grundlohn, dürfen dafür Teile des Diebesguts behalten. Musa’id kommen, so behauptet er, angesichts der ausufernden Verbrechen gegen die Zivilisten erste Zweifel.

Geld fließt auch vom Islamischen Staat

Doch er macht weiter mit. Beachtliche eineinhalb Millionen Dollar Jahresbudget hat er für den Justizsektor von Boko Haram. Die Bauern müssen ein Zehntel ihrer Einnahmen abtreten, die Fulani-Hirten umgerechnet zwei Dollar Wegegeld pro Rind. Dazu kommt das Geld des Islamischen Staates (IS). 2015 sichert Shekau dem damaligen IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi die Gefolgschaft zu. Beide Männer hätten schon über einen Besuch al-Baghdadis im nigerianischen Kalifat gesprochen, erzählt Musa’id. Die beiden Männer hätten auch geplant, Terrormilizen in Afrika zu vernetzen.

Selbst al-Baghdadi sind die Morde von Boko Haram zu willkürlich, fordert mehr Kontrolle. Shekau lehnt das ab, weicht die Verbindungen zum IS im Laufe der Jahre auf. Ausländische Kämpfer habe es keine gegeben, sagt Musa’id. Geld aber floss weiter, und zwar in einem undurchsichtigeren System als bislang bekannt. Die Zahlungen seien an nigerianische Geschäftsleute in Libyen gegangen. Die von dem Geld erworbenen Waren seien legal nach Nigeria exportiert worden, der Verkaufserlös landete schließlich auf Konten der Boko-Haram-Drahtzieher.

Auch an der Entführung von mehr als 260 christlichen Schülerinnen aus der Stadt Chibok im Jahr 2014 ist Musa’id beteiligt, organisiert 17 Fahrzeuge für den Transport. Das Verbrechen sorgt für eine Welle der Empörung. „Wir wollten die Regierung zwingen, alle Schulen zu schließen.“ Boko Haram lässt sich mit „Westliche Bildung ist Sünde“ übersetzen. Neben moderaten Imamen, Soldaten und Polizisten sind Lehrer das häufigste Anschlagsziel.

Mit der Zeit werden aus den Zweifeln bei Musa’id immer konkretere Fluchtpläne. Heute sagt er, die Bewegung habe sich „in eine andere Richtung bewegt, als wir ursprünglich geplant hatten“. Er spricht von „vielen Gräueltaten“, die er nicht mehr mittragen wollte. „Ohne Frieden kann keine Religion florieren“, sagt Musa’id, und man fragt sich, warum diese Einsicht, falls sie denn aufrichtig ist, nicht früher kam.

Die Informationen zum Ausstiegsprogramm standen auf einem Flugblatt

Eine Rolle wird gespielt haben, dass erst die jahrelangen Verhandlungen zur Freilassung der Chibok-Mädchen Basis für die Entstehung der Aussteigerprogramme waren – aus den vorhandenen Kontakten entstanden die ersten Gespräche zur Amnestie. Aber auch, dass NigeriasLuftwaffe mit Unterstützung der USA die Angriffe zuletzt intensivierte. Zeitgleich spaltete sich Boko Haram. Der Ableger Islamic State of West Africa Province (ISWAP) bekämpft die geschwächte Shekau-Fraktion, der Musa’id angehörte. Vor zwei Jahren sprengte sich Shekau in die Luft, als er von ISWAP eingekesselt worden war. 

„Ich habe die Explosion gehört und wusste, was das bedeutete“, sagt Musa’id. Bislang ist keines seiner 19 Kinder getötet worden. Der Terrorist ahnt damals, dass sich das bald ändern würde. Als die Luftwaffe anstelle von Bomben Flugblätter mit Informationen zum Ausstiegprogramm abwirft, greift er „mit beiden Händen“ zu. Er habe seitdem tausende Boko-Haram-Kämpfer „aus dem Busch geführt“.

Insgesamt haben sich rund 6000 aktive Islamisten gestellt. Musa’id glaubt allerdings, dass 6000 noch aktiv sind. Genau weiß das niemand, viele Beobachter gehen von einer geringeren Zahl aus. Bei ISWAP sind es wohl 2000, von denen nur wenige ausgestiegen sind – sie sind für den Großteil der aktuellen Anschläge verantwortlich, füllen die IS-Propagandamedien. 

Es wird dunkel und Musa’id nervös, wie an jedem Abend. Er wolle nun zurück ins Camp. Man könne an einem der kommenden Tage weiterreden, sagt er beim Abschied. Zeit, sich bei anderen zum Amnestieprogramm umzuhören. Mallam Adamu Rugurugu, ein weiterer angeblich geläuterter Terrorist, erklärt sich zum Gespräch bereit. Wieder fährt das Auto in den Hinterhof. Auch er habe sich schon unter Yusuf radikalisiert. In der Hierarchie ist er unter Musa’id angeordnet, doch aus einem Blumenverkäufer aus der Stadt Gwoza, der nebenbei als Imam tätig war, wird ein Islamist, der 300 Kämpfer befehligt.

Rugurugu war direkt an Morden und Plünderungen beteiligt

Anders als Musa’id ist Rugurugu, 43, damals regelmäßig direkt an Angriffen auf Dörfer beteiligt, den Plünderungen, den Morden. Die streitet er nicht ab, einige seiner Leute hätten „Schlimmes“ getan. Er selbst habe lediglich in die Luft geschossen. „Ich habe ein weiches und freundliches Herz, möchte nicht töten“, behauptet er – Worte, die sich für die Angehörigen der Opfer wie Hohn anhören müssen. 

Auch er legt die internationalen Finanzierungswege offen, spricht über die Verkaufserlöse von importierten Produkten, das Geld dafür sei aus dem Irak und Pakistan gekommen. Der Großteil der Einnahmen stamme allerdings von Entführungen, den Plünderungen von Banken, Geschäften und Häusern. Viele Menschen in den Dörfern bewahren ihre Ersparnisse in Bargeld auf. „In einem Haus haben wir 20 Millionen Naira gefunden“, sagt Rugurugu. Umgerechnet über 40.000 Euro.

Erst als eines seiner Kinder im Jahr 2019 mangels Medizin an Malaria stirbt, die Gerüchte zur Ausweitung des Amnestieprogramms durch Nigerias Regierung konkreter werden, reift der Gedanke an den Ausstieg. Doch Rugurugu wartet noch zwei Jahre lang. Er hat schließlich persönlich im Laufe der Zeit die Hinrichtung von zehn seiner Kämpfer angeordnet, für Deserteure war die Todesstrafe Standard, an Ort und Stelle vollzogen. „Wenn man einmal im Busch ist, gibt es kein Zurück“, sagt er. 

Am Abend habe er seine Familie eingeweiht, die ältesten Söhne waren längst selbst aktive Kämpfer. Als sie in der Nacht aufbrechen wollen, überrascht sie ein Islamist. Rugururu schoss ihm in den Kopf, ohne zu zögern. „Der Knall hat keinen Verdacht ausgelöst“, sagt er, „es gab ja überall anhaltende Gefechte mit der Armee.“ Er schätzt die Zahl der verbliebenen Kämpfer auf „2000 bis 3000“ und damit deutlich niedriger als Musa’id: „Die Shekau-Leute sind fast alle raus.“

Ganz glaubwürdig ist die Reue des Terroristen nicht

Seit zwei Jahren lebt er nun wieder in Maiduguri. Ganz glaubwürdig ist seine Reue nicht, auch wenn er minutenlang referiert, wie wichtig ihm der Frieden nun sei. Was er von der Scharia halte? Er erkenne den Staat nun an, sagt Rugurugu – aber fügt hinzu, dass er weiter für eine strikte Anwendung der islamischen Gesetzgebung sei: „Jeder Muslim“ wisse, dass der Koran beim ersten Diebstahl das Abschlagen einer Hand, beim zweiten des Fußes vorsehe.

In Maiduguri, das von Boko Haram jahrelang tyrannisiert wurde, gibt es einigen Widerstand gegen die Terroristen. Doch Rugurugu erzählt, dass er nach einigen Monaten in einem Deradikalisierungscamp in eine gewöhnliche Siedlung gezogen sei. Seine neuen Nachbarn seien von seiner Reue überzeugt.

Er hat als Imam bereits wieder bei den ersten Hochzeiten und Beerdigungen gepredigt.

 
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