Herr Neumann, am 14. Juni beginnt die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Ist das Turnier sicher?
Peter Neumann: Unabhängig von der EM ist die Terrorgefahr deutlich höher als noch vor einem Jahr. Zusätzlich sind Sportereignisse immer im Visier von Terroristen. Insofern besteht schon eine gewisse Bedrohung. Und wir kennen ja die Warnungen, die der sogenannte Islamische Staat gegen das Turnier schon gerichtet hat.
Zuletzt hat ein IS-Ableger, der ISPK, eine Fotomontage verbreitet, auf der ein Terrorist in einem leeren Stadion zu sehen ist. Darüber stehen die Städtenamen Berlin, Dortmund und München und dazu auf Englisch: "Wo willst du? Schieß das letzte Tor". Einige werteten das als unverhohlene Drohung.
Neumann: Ich verstehe das eher als einen Aufruf an potenzielle Einzeltäter. Wenn der IS tatsächlich einen größeren Anschlag plant, würden die Terroristen das nicht auf ein Plakat schreiben. So würden sie ja den Erfolg der Operation aufs Spiel setzen. Nein, so funktioniert das nicht.
Aus Behördenkreisen heißt es, konkrete Erkenntnisse über Anschlagspläne lägen keine vor. Gleichzeitig ist von einem "erhöhten Grundrauschen" die Rede. Was ist gemeint?
Neumann: Die Sicherheitsbehörden registrieren natürlich, dass es gerade viel dschihadistische Aktivität gibt, vor allem in den einschlägigen Foren im Internet: Terrororganisationen versuchen dort zum Beispiel, Anhänger zu motivieren, in Eigenregie einen Anschlag zu verüben. Das ist das sogenannte Grundrauschen. Dazu kommt allerdings mit dem genannten ISPK, dem "Islamischen Staat – Provinz Khorasan", wieder eine Organisation, die tatsächlich in der Lage ist, koordinierte Anschläge durchzuführen. Das hatten wir seit 2017 nicht mehr und das ist eine erhebliche Bedrohung.
Was weiß man über den ISPK?
Neumann: Das ist der aggressivste und ambitionierteste Ableger des IS. Er kommt ursprünglich aus Afghanistan und hat sich nun auf Zentralasien ausgeweitet: Der ISPK rekrutiert sehr stark unter Tadschiken, Usbeken, Kirgisen. Vor zehn Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die größte dschihadistische Bedrohung gegen Europa von Leuten ausgeht, die miteinander Russisch sprechen. Die können gar kein Arabisch.
Der ISPK soll für den Anschlag auf eine Moskauer Konzerthalle im März verantwortlich sein. Liegt dessen Fokus nicht auf Russland?
Neumann: Der Feind der ISPK-Terroristen ist Russland, weil dort viele seiner Anhänger aus vormaligen Sowjetrepubliken zu finden sind. Aber nicht nur. Seit etwa 2020 versucht der ISPK auch, komplexe Anschläge in Europa zu verüben. Seitdem sind einige Anhänger hierhergekommen, zum Teil hochprofessionelle Terroristen mit Kampferfahrung. Akut wurde es aber erst 2022: Viele aus dieser Gruppierung sind damals im Schatten der Flüchtlingswelle über die Ukraine nach Westeuropa gekommen. Deswegen haben wir seit 2022 fünf versuchte Anschläge des ISPK in Europa – unter anderem auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien.
Wie viele ISPK-Anhänger leben derzeit in Deutschland?
Neumann: Schwierig zu sagen. Ich vermute zwischen 50 und 100 Personen. Es gibt also einige Zellen, die uns noch vor Herausforderungen stellen könnten. Wenn man sich anschaut, woher Dschihadisten stammen, die in den letzten drei Jahren in Deutschland festgenommen wurden, fällt auf, dass die Mehrheit dieser Leute aus Zentralasien ist.
Zurück zur konkreten Sicherheitslage während der EM: Wird aus den Aufrufen zu Anschlägen Realität?
Neumann: Ich glaube, dass die deutschen Behörden zumindest die Spielstätten sehr gut absichern können. Deshalb bin ich relativ sicher, dass es keine Anschläge auf Spiele geben wird. Die Gefahrenzonen sind eher die Wege zu den Stadien oder Public-Viewing-Veranstaltungen. Niemand kann ausschließen, ob nicht jemanden im stillen Stübchen mit einfachsten Mitteln – und das propagiert der IS auch wieder – etwas plant und zur Tat schreitet.
Schon im April gab es Aufrufe, sogenannte Ungläubige zu überfahren, zu erstechen, zu erschießen, zu vergiften oder deren Häuser in Brand zu setzen. In der IS-Propaganda gab es auch das Bild einer Drohne über einem Fußballstadion mit dem Schriftzug "Wenn sie euch am Boden keine Chance geben, dann schlagt aus der Luft zu!". Das sind neue Formen von Anschlägen, oder?
Neumann: Dem IS ist es egal, ob Opfer enthauptet, erstochen oder überfahren werden. Vergiften und Häuser anzünden – das gibt es auch schon lange. In den 2010er-Jahren war zum Beispiel vom "Feuer-Dschihad" die Rede. Meines Wissens hat aber niemals jemand einen Anschlag durch Brandstiftung verübt. Anders ist es beim Thema Drohnen, die ja auch in Kriegen – etwa in der Ukraine – immer stärker zum Einsatz kommen: Dschihadisten experimentieren seit Jahren mit Drohnen. Und das ist auch bei der EM ein Faktor.
Inwiefern?
Neumann: Drohnen sind nicht nur frei verfügbar, sondern auch nur sehr schwer zu stören. Mittlerweile gibt es zwar die Technologie, die es schafft, Steuerung und Drohne zu trennen, aber das funktioniert nicht immer zuverlässig. Das ist der einzige wunde Punkt bei der Sicherung von Stadien: Dass eine Drohne über ein Stadion fliegt und etwas abwirft oder sich selbst in die Luft sprengt, kann man mit den aktuellen Möglichkeiten nicht zu 100 Prozent verhindern. Alle anderen Anschlagsszenarien kann man gut allein durch Einlasskontrollen in den Griff bekommen.
Das Eröffnungsspiel findet in München statt, dort wo 1972 palästinensische Terroristen das Olympia-Attentat auf israelische Sportler verübt haben. Terroristen haben einen starken Hang zu Symbolik. Könnte München also verstärkt ins Visier von Terroristen geraten?
Neumann: Nein. International ist dieses Ereignis nicht in Verbindung mit München, sondern mit Olympia im Gedächtnis geblieben. Unabhängig davon mache ich mir übrigens mehr Sorgen um die Olympischen Spiele in Paris im Sommer als um die EM.
Warum?
Neumann: Olympia ist das leichtere Ziel: Es gibt viel mehr Wettkampfstätten und die lassen sich häufig schlechter kontrollieren als ein Fußballstadion. Dazu kommt, dass im Gegensatz zur EM eine israelische Mannschaft teilnehmen wird. Und die Spiele finden in Frankreich statt. Dort ist das Grundrauschen viel stärker und es gibt viel mehr Anschlagsversuche als bei uns.