Herr Nida-Rümelin, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vor einer Woche die ersten Ergebnisse der Europawahl gesehen haben?
Julian Nida-Rümelin: Na ja, es kam ja nicht ganz unerwartet, diese Verschiebung nach rechts zeichnete sich schon lange ab. Für die AfD waren Anfang des Jahres sogar noch wesentlich höhere Zahlen im Umlauf, laut Umfragen deutschlandweit über 20 Prozent. Jetzt sind sie bei knapp 16 gelandet. Insofern haben die Skandale zuletzt und auch die Demonstrationen seit Jahresbeginn durchaus gewirkt.
Sie sprechen von den Protesten nach den Enthüllungen um das Potsdamer Treffen mitsamt den ganzen Remigrations-Fantasien rechter Kreise. Damals wurde auf den Straßen, aber auch in Leitartikeln und präsidialer Reden aller Art die Demokratie beschworen. Das mag einerseits ermutigend sein, aber hat man damit nicht auch die Reihen auf der anderen Seite geschlossen? Ist Demokratie mittlerweile zu einem Kampfbegriff geworden, der von allen möglichen beansprucht und in Anschlag gebracht wird?
Nida-Rümelin: Die Demokratie hat ja sehr starke Voraussetzungen. Sie setzt beispielsweise voraus, dass sich die Leute informieren, dass sie sich auch engagieren. Zum Beispiel und zuvorderst in den Kommunalparlamenten, die könnten ja nicht mehr funktionieren, wenn niemand mehr bereit ist zu kandidieren, und das ist ja keine Karriere-Option. Die Leute müssen sich also von sich aus einsetzen für ihr Gemeinwesen, müssen Anteil nehmen, sich für die Gestaltung des Politischen in irgendeiner Weise engagieren, sonst ist die Demokratie am Ende. Dazu gehört politische Urteilskraft, und dazu gehört, dass wir ein breites Spektrum von Meinungen aushalten können, respektvoll miteinander umgehen, auch bei tiefen Dissensen. Denn wenn das erodiert, ist die Demokratie als ganze gefährdet.
Die, nennen wir sie mal populistischen Parteien, liegen nun bei über 20 Prozent, die AfD ist fast im gesamten Osten stärkste Kraft – und eben die demokratischen Parteien zeigen nun mit dem Finger aufeinander. Für die Union ist etwa klar, dass wer mit A wie Ampel unzufrieden ist, verstärkt B wie die Blauen wählt. Ist es wirklich so einfach?
Nida-Rümelin: Nein, dazu muss man ja nur zu unseren Nachbarn, nach Österreich, Frankreich oder auch Italien schauen. Es handelt sich vielmehr um einen größeren Trend, der auch bei uns durchschlägt und den man in den Nachwahlbefragungen, aber auch der jüngsten Jugendstudie sehen kann: Dort rangieren die Entwicklung der Inflation, der Mieten, sogar die Alterssicherung noch vor dem Klimawandel. Es gibt da keinen tiefen Generationenkonflikt mehr, wie es in den Medien in den letzten Jahren behauptet wurde, sondern eine Verschiebung der Interessenlagen. Also, wir haben da eine Veränderung, die man nicht nur mit Ampel-Querelen erklären kann.
Sozusagen weg vom vormaligen grünen Zeitgeist…
Nida-Rümelin: Ich glaube, die Form der Politik, wie sie die Grünen nicht nur auf Bundesebene betrieben haben, ist Teil des Problems. In größeren Teilen der Bevölkerung ist der Eindruck entstanden, die Grünen setzten jeweils die Agenda, in welcher Koalition auch immer. Die anderen beteiligten Parteien können das eine oder andere verhindern, aber sich dagegen nicht mehr profilieren. Das geht manchen ziemlich auf den Keks, um das mal flapsig zu formulieren. Es geht eben immer auch um die Frage, wie man Politik macht, nicht nur um die Inhalte. Das erklärt auch, warum in Hessen trotz schwarz-grüner Mehrheit die CDU nach einer langen und durchaus erfolgreichen Koalition mit den Grünen nach der letzten Landtagswahl entschieden hat, mit der SPD zu koalieren.
Apropos SPD, die Partei ist der andere große Wahlverlierer. Sie waren im Kabinett Schröder dereinst Kulturstaatsminister, später sogar einmal im Parteivorstand und haben also eine gewisse empirische Expertise, was die Sozialdemokraten anbelangt…
Nida-Rümelin: … das ist allerdings lange her, ich bin seit 2013 ohne jede Funktion und Rolle.
Aber vielleicht können Sie aus der Distanz heraus ja umso mehr erklären, was sich verändert hat, die SPD als Volkspartei scheint ja geradezu marginalisiert.
Nida-Rümelin: Auch das kann man im europäischen Vergleich sehen, bei allen Unterschieden. Mir scheint, dass da ein Element jetzt voll durchschlägt, das ich schon – Sie werden jetzt erschrecken – seit den 70er Jahren beobachte, nämlich eine kulturelle Diskrepanz zu den Hauptadressaten einer linken Volkspartei. Das sind aber nun mal die Arbeiter, zumal Facharbeiter, auch das Kleinbürgertum, die unteren Einkommensschichten, das sind also Leute, die angewiesen sind auf Sozialstaatlichkeit, auf eine hinreichende Bändigung des Kapitalismus, damit die Schwächeren nicht unter die Räder kommen, um es mal ganz grob zu sagen. Das sind aber auch dieselben Teile der Bevölkerung, die kulturell eher konservativ sind, die keine radikale Veränderung ihrer Lebensform wünschen, die sich auch nicht bevormunden lassen wollen von akademischen Milieus, die auch nicht ihre Berufs- und Lebenswege abgewertet haben wollen zum Beispiel durch eine Bildungspolitik, die die Botschaft vermittelt: Ohne Abitur wirst du nichts. Also wer die eigene Anhängerschaft implizit abwertet in ihren Lebensformen, der muss sich nicht wundern, wenn das Auswirkungen hat.
Und über ein großes Thema auch dieses Wahlkampfes haben wir noch gar nicht mal gesprochen, nämlich die Migration...
Nida-Rümelin: Da bin ich ganz klar: Wenn gesagt wird, wir wollen, dass die Einwanderung erleichtert wird und zugleich haben wir aber kein funktionierendes Integrationskonzept, das sicherstellt, dass die Menschen dann auch sehr rasch auf den Arbeitsmarkt, die Kinder in Bildungseinrichtungen zurechtkommen etc., dann geht das schief. Zumal, wenn man sich gleichzeitig gegen restriktivere Grenzsicherung an den europäischen Außengrenzen wehrt. Das wird jetzt immerhin korrigiert, endlich. 2015/16 war die große Migrationskrise, jetzt 2023/24, beginnt die Europäische Union, aktiv zu werden.
Die Ohnmacht, die nicht wenige in diesem Land empfinden, ist auch der wirtschaftlichen Lage, dem ökonomischen Druck geschuldet – nicht nur privat, sondern für jeden auch zu sehen und zu spüren in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge, bis hin in das Gesundheitssystem. Sie sprechen ja am Montag im Uniklinikum Augsburg über ökonomische Zwänge und ethische Grundsätze – mal ganz prinzipiell gefragt: Kann es das überhaupt geben, quasi eine Versöhnung zwischen Marktlogik und Moral?
Nida-Rümelin: Man muss es ins Gleichgewicht bringen. Wir wollen ja keine vollständig verstaatlichte medizinische Versorgung wie in Großbritannien, da sieht man ja, dass das nicht so gut funktioniert. Wir haben ein gemischtes System, auch nicht unproblematisch, das ist schon auch eine Art Klassenmedizin, aber insgesamt stehen wir gut da. Das tieferliegende Problem in vielen öffentlichen Bereichen: Wir laborieren noch stark an der Idee der ökonomistischen Umgestaltung staatlicher Dienstleistungen. Diese New public economics haben aber Pseudo-Märkte geschaffen, die das Berufsethos derjenigen, die diese Dienstleitungen erbringen, beschädigen.
... was nicht nur Bahn-Kunden merken und zusätzlich für Frust und Wut im Land sorgt. Sie haben unserer Redaktion mal gesagt, sie glaubten nach wie vor an die politische Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger und seien letztlich optimistisch. Gilt das weiterhin?
Nida-Rümelin: Also, ich bin insofern schon optimistisch, dass wir die Demokratie in Deutschland bewahren werden. Sie ist aber aktuell gefährdet, auch durch die international neue Lage, in der autokratische und teilweise diktatorisch-totalitäre Staaten nun auch ökonomisch und technologisch sehr erfolgreich sind. Das war früher mal anders. Und es gibt auch eine Art Selbstgefährdung der Demokratie, indem wir zu viel verrechtlichen oder an Expertengremien delegieren und damit den Eindruck erwecken, dass im Grunde gar nicht mehr politisch entschieden werden kann. Das betrifft auch Europa, das eine der am wenigsten politisch kontrollierten Bürokratien hat, verglichen mit anderen einzelstaatlichen Exekutiven. Und das sage ich, so sehr ich – etwa in außenpolitischen Belangen – für ein starkes Europa bin. Aber Europa wird nur dann eine gute Zukunft haben, wenn es in kluger Selbstbescheidung alles, was sich in den einzelnen Mitgliedsstaaten regeln lässt, auch dort belässt, das Subsidiaritätsprinzip also ernst nimmt.