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München
Sternekoch Tim Raue: "Ich wäre auch ein guter Krimineller geworden"
Tim Raue ist einer der bekanntesten Köche Deutschlands. Wie hart sein Weg an die Spitze war und warum sich die Menschen hierzulande mit Genuss oft schwer tun:
Günther Jauch ist «Gastronom des Jahres».jpeg       -  „Ich liebe arbeiten. Ich verstehe nicht, warum manche das nicht gerne tun“, sagt Spitzenkoch Tim Raue.
Foto: Friedrich Bungert, dpa | „Ich liebe arbeiten. Ich verstehe nicht, warum manche das nicht gerne tun“, sagt Spitzenkoch Tim Raue.
Stephanie Sartor
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:00 Uhr

Herr Raue, Sie sind gerade viel unterwegs. In Japan etwa, in Marokko oder auf Kuba. Suchen Sie nach Inspirationen für Ihr Zwei-Sterne-Lokal?

Tim Raue: Inspiration bekomme ich durch viele Dinge. Das muss nicht dadurch geschehen, dass ich verreise oder auf den Markt gehe. Ganz oft inspirieren mich Momente, die mich im Alltag überraschen und die dafür sorgen, dass das Hirn anspringt. Mittlerweile passiert das vor allem durch Kunst. Aber ja, für meine Sendung „Herr Raue reist“ bin ich sehr viel unterwegs. Ich darf fremde Länder entdecken und essen – das ist für mich der absolute Luxus. Mittlerweile steht für mich bei solchen Reisen aber der Mensch mehr im Vordergrund als das Essen. Essen verstehe ich. Ich habe mich Jahrzehnte lang mit nichts anderem beschäftigt.

Viele Menschen kennen Sie aus Formaten wie eben „Herr Raue reist“, „Kitchen Impossible“, „The Taste“ oder „Raue, der Restaurantretter.“ Wie sind Sie zum Fernsehen gekommen?

Raue: Ich habe schon vor zwölf Jahren Fernsehen gemacht, „Deutschland sucht den Meisterkoch“ hieß das Format damals. Ich habe das getan, weil ich in einem knappen Zeitraum sehr viel Geld verdienen konnte. Fernsehen habe ich damals aber überhaupt noch nicht verstanden. Etwa sechs Jahre später habe ich Tim Mälzer kennengelernt. Mir ist dann ein Format angeboten worden, das er heute supererfolgreich bespielt, nämlich „Kitchen Impossible“. Ich habe ihn ins Boot geholt und gesagt, dass ich als sein Gegner mitmachen würde. So bin ich da reingeraten. 

Wie viel vom Menschen Tim Raue sieht man eigentlich im Fernsehen?

Raue: 100 Prozent. Das bin komplett ich. Ich würde mich für nichts und niemanden verstellen. 

Sie reisen oft, machen mehrere TV-Formate, betreuen acht Restaurants - wird Ihnen das nicht manchmal zu viel?

Raue: Für mich hat ein Arbeitstag nie unter 16 Stunden. Ich liebe arbeiten. Ich verstehe nicht, warum manche das nicht gerne tun. Das ist aber auch ein Grund, warum ich selbstständig bin, in Angestelltenverhältnissen habe ich nie besonders gut funktioniert. Ich habe einmal in einem Hotel gearbeitet, da gab es eine Stechuhr. Nach drei Tagen musste ich zum Betriebsrat, weil sie meinten, da würde jemand betrügen, weil so viele Stunden auf der Karte standen. Ich bin um 7 Uhr da gewesen und bin erst lange nach Feierabend gegangen, weil ich da noch meine Töpfe poliert habe. Schließlich mussten sie mich befördern. Ich war dann so hoch bezahlt, dass alles abgegolten war und ich nicht mehr stempeln musste.

Sie sprechen von 16-Stunden-Tagen. Diese langen Arbeitszeiten sind ja schon etwas, das in der Gastronomie immer wieder kritisiert wird. Auch der Ton in der Küche gilt als enorm scharf.

Raue: Ich mache das alles schon sehr lange. Ich bin jetzt 49, Küchenchef bin ich, seit ich 21 bin. Alles entwickelt sich, auch das Miteinander. Ich habe irgendwann festgestellt, dass ich ein Arschloch-Chef bin, der die Menschen nur als Arbeitsmaschinen gesehen hat. Dann habe ich mich geändert, damit hat sich auch die Arbeitsatmosphäre geändert. Man kann die Debatte über lange Arbeitszeiten und scharfe Worte aber nicht auf die Gastronomie beschränken. Es gibt in jeder Branche widerwärtige Typen. Es ist dann aber doch jeder für sich selbst verantwortlich, zu sagen: Danke, auf Wiedersehen.

Wie oft stehen Sie denn in Ihrem Berliner Gourmet-Restaurant noch in der Küche?

Raue: Ich bin im Schnitt etwa 120 Tage im Jahr in Berlin. Und wenn ich in der Stadt bin, dann bin ich auch im Restaurant. Aber mich braucht es nicht mehr, damit der Betrieb funktioniert. Ich muss niemandem mehr zeigen, wie ein Fisch filetiert oder eine Soße angesetzt wird. Wenn ich da bin, kreiere ich vor allem Gerichte. Das ist mein Job. Mein Job ist es nicht, Zwiebeln zu schälen.

Aufgewachsen sind Sie in ärmlichen Verhältnissen in Berlin-Kreuzberg. Zehren Sie heute davon, dass Sie sich als Kind und Jugendlicher durchboxen mussten?

Raue: Ich denke schon. Es ist ja heute so, dass ich mich durch das, was ich mache, komplett definiere. Ich würde dafür alles in die Waagschale werfen. Als Kind war ich anders, weicher. Meine Teenager-Zeit, die Gewalt, die ich durch meinen Vater erfahren habe, hat viel zerstört. Diese Härte, die ich heute habe, kommt daher, dass ich wirklich weiß, was es heißt, in blanker Armut ohne Heizung, ohne Essen zu vegetieren. Nicht zu leben, wirklich zu vegetieren.

Warum sind Sie dann letztlich Koch geworden? Ihr Weg hätte nach Ihrer harten Jugend auch ganz anders enden können...

Raue: Klar, ich wäre auch ein sehr guter Krimineller geworden. Wir haben damals mit Drogen und Waffen gehandelt. Ich habe auch schon immer ein unternehmerisches Denken gehabt. Während meiner Ausbildung habe ich in einem Jeans-Laden gearbeitet. Ich konnte da Klamotten zum Einkaufspreis kaufen und habe die dann mit ordentlich Gewinn weiter vertickt. Dass ich Koch geworden bin, habe ich einem Multiple-Choice-Test beim Berufsinformationszentrum am Arbeitsamt zu verdanken. Ich wollte immer was Gestalterisches machen. Im Test blieben dann drei Optionen. Bei Landschaftsgärtner war ich sofort raus, ich hasse Regen. Maler und Lackierer wollte ich auch nicht werden, da wusste ich, dass man eher tausende Quadratmeter weiß streichen muss als kreativ sein zu können. Und dann stand da eben noch Koch. Und ich war ja immer hungrig, weil es zu Hause nie etwas zu essen gab. Das hat dann irgendwie gepasst. Und ich habe sehr schnell gemerkt, dass es in der Küche nicht um Schulnoten geht, sondern um Leistung und Engagement. Und das hatte ich drauf.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie außerordentlich gut schmecken können. Dass Sie ein Gericht auf Ihrer Zunge quasi in seine Einzelteile zerlegen können. Kann man das lernen?

Raue: Lernen kann man, all das, was man über Jahrzehnte isst, abzuspeichern. Und zu wissen, wie sich Texturen anfühlen oder welche Säure etwa eine Tamarinde hat. Dass ich sensorisch so feingliedrig bin, hat damit zu tun, dass ich insgesamt hypersensibel bin. Ich nehme alles Sensorische viel intensiver wahr als andere Menschen. Lautstärke etwa nervt mich entsetzlich, beim Arbeiten höre ich auch keine Musik, ich muss mich auf eine Sache fokussieren. Ich bin auch völlig überfordert, Auto zu fahren, weil das so viel Aufmerksamkeit verlangt. Ich habe diese Hypersensibilität auch von Ärzten messen lassen. Man muss lernen, damit umzugehen.

Was macht den perfekten Geschmack aus? Gibt es den überhaupt?

Raue: Für mich nicht. Wir sind ja auch als Menschen völlig unterschiedlich. Ich persönlich bin süchtig nach Süße, Säure, Schärfe, es muss scheppern. Aber ich mag auch Besinnlichkeit, das Spiel von Schokoladen- und Vanillepudding zum Beispiel. Das ist, als würde man mit zwei Kaschmirdecken kuscheln, die eine etwas dicker, die andere etwas dünner. Man schließt die Augen und vergisst alles um sich herum. Aber so ein Pudding muss halt exzellent gekocht sein.

Glauben Sie, dass es den Deutschen an derlei Hingabe für gutes Essen mangelt?

Raue: Wir Deutschen haben ein großes Problem mit unserer Geschichte. Das ist die Geschichte eines Landes, das zwei Weltkriege verursacht hat und aus Ruinen wieder aufgebaut wurde – und eben eine Zeit erlebt hat, in der Genuss natürlich nicht der wichtigste Faktor war. Wir können uns nicht mit Italien, Spanien oder Frankreich vergleichen. Aber die Entwicklung ist extrem positiv. Wir verstehen immer mehr, wie wichtig Ernährung für die Gesundheit ist. Die junge Generation ist eben nicht mehr damit zu beeindrucken, dass es im Supermarkt 15 Meter lange Fleischregale gibt. Mich freut auch, dass Aldi oder Lidl nicht mehr die schäbigste Haltungsform verkaufen. Wenn diese Veränderung so weitergeht, dann wäre das sehr erfreulich. 

Sie haben in Ihrer Sendung „Raue, der Restaurantretter“ in einige Lokale geblickt. Was haben Sie denn da über das Essverhalten der Menschen in Deutschland gelernt?

Raue: Ich komme natürlich in Kontakt mit Menschen, bei denen ich den Kopf schütteln muss. Aber ich habe eben nicht dieses Oberlehrerhafte, dass ich sage: Hans-Jürgen, warum kaufst du den tiefgefrorenen Lachs für 99 Cent anstatt den frischen, den du in deiner 100.00-Euro-Küche viel besser garen könntest? Ich bin kein Aktivist. Aktivismus geht mir ziemlich auf den Sack. Diese Anmaßungen, anderen zu sagen, was sie tun oder zu lassen haben, widersprechen mir als liberalen Menschen. Ich mochte es auch nie, dass Veganer so mit ihrer Ernährungsform hausieren gegangen sind. Ich habe den Veganismus deswegen lange gebasht und beschimpft. Bis ich einmal, weil ich es meinem Körper so schlecht ging, eine radikale Diät machen musste und festgestellt habe, dass mir das guttut und dass man sehr gut vegan kochen kann, wenn man eben nicht industriell komplett verbastelte Produkte nimmt. Bei uns im Restaurant essen mittlerweile fast 30 Prozent der Gäste vegan, seit wir das anbieten. 

Fleisch dominiert aber nach wie vor viele Speisekarten. Warum tut sich die vegetarische oder vegane Küche in der Gastronomie noch immer so schwer?

Raue: Grundsätzlich ist die Gastronomie für den Gast da. Und der Gast fragt nach Fleisch oder Fisch. Ich finde auch nicht, dass man das den Menschen wegnehmen sollte, man könnte aber bewusster damit umgehen. Also nur sehr hochwertiges Fleisch kaufen und den Rest weglassen. Man muss das als Gastronom dann eben aushalten. Ich habe 2007 Reis, Nudeln, Kartoffeln und Brot aus meiner Küche komplett rausgeschmissen, alle unsere Milchprodukte sind laktosefrei. Am Anfang haben wir da Tausende Beschwerdebriefe bekommen. Die haben wir alle ignoriert. Aber klar, nehmen Sie dem Deutschen mal das Brot weg. Das war logisch, dass das Rambazamba gibt.

Essen Sie privat viel Fleisch?

Raue: Ich kann monatelang kein Rindfleisch essen, das stört mich nicht. Was ich sehr liebe, sind Fisch und Krustentiere. Und ich habe enorm viel Freude an Schweinefleisch. Wenn Sie mir das wegnehmen würden, hätten wir ein Problem miteinander. Generell esse ich an acht von zehn Tagen Vietnamesisch, Thailändisch oder Chinesisch. Da kann man auch gut auf Fleisch verzichten, es gibt in der chinesischen Küche etwa hinreißende Auberginen-Gerichte. Ich versuche schon, mich zwei Tage pro Woche vegan zu ernähren. Leider bin echt hardcore zuckerabhängig. Wenn ich Schokolade sehe oder Eis, dann kann ich mich schwer beherrschen. Ich habe früher Schokolade gegessen wie andere Menschen Brot.

Kochen Sie eigentlich auch zu Hause?

Raue: Ich mache meiner Frau Frühstück. Und ich koche für den Hund. Aber für mich selbst koche ich überhaupt nicht. 

Zur Person: Tim Raue, 49, stammt aus Berlin-Kreuzberg. Dort befindet sich auch das mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Restaurant „Tim Raue“, das er gemeinsam mit Marie-Anne Wild führt und das auf Platz 26 der 50 besten Restaurants der Welt liegt. Raue ist durch zahlreiche TV-Formate bekannt, darunter „Kitchen Impossible“, „The Taste“ und „Raue, der Restaurantretter“. Netflix widmete ihm als einzigem Deutschen eine Folge der weltweit bekannten Serie „Chef’s Table. 

 
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