Frau Koch-Mehrin, für Krankheit war kein Zeitfenster vorgesehen, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was war in Ihrem Leben gerade los, als sie 2019 mit 48 Jahren erfuhren, dass Sie Brustkrebs haben?
Silvana Koch-Mehrin: Ich stand mitten im Leben, meine älteren Kinder waren schon im Teenageralter. Ich hatte nach meinem Ausscheiden aus dem EU-Parlament 2014 die Stiftung "Women Political Leaders" gegründet. Im Juli 2019 konnten wir beim G20-Gipfel in Japan unsere Arbeit international gut ausbauen. Es ging mir, glaube ich, wie vielen Menschen: Man erlebt zwar Krankheitsfälle bei Freunden und Bekannten, doch dass man selbst krank werden könnte, damit setzt man sich erst auseinander, wenn es einen wirklich trifft.
Hatten Sie eine Routine-Untersuchung beim Frauenarzt?
Koch-Mehrin: Ja. Ich spürte nichts, auch nicht beim Abtasten. Ich fühlte mich auch nicht schlapp oder müde. Auch der Arzt hatte nichts ertastet. In der Mammografie zeigten sich Mikroverkalkungen. Der Arzt sagte: "Sie können, müssen aber nicht Krebs haben." Eine Biopsie sollte Klarheit bringen.
Wie haben Sie reagiert?
Koch-Mehrin: Plötzlich wusste ich, was Panik ist. Es hat mich große Mühe gekostet, Fassung zu bewahren. Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Das Vertrauen, dass ich mich und meinen Körper mit fast 50 kenne, war weg. Zu akzeptieren, dass ich Krebs habe, fiel mir sehr schwer. Und dann die Operation, Chemo- und Strahlentherapie. Ich dachte, sind die sich wirklich sicher? Mir geht's doch gut. Ich schwankte zwischen "es nicht wahrhaben wollen" und "ich habe Krebs und sterbe".
Ihre Töchter waren 16, 14 und 11 Jahre alt. Ihnen haben Sie drei Wochen lang nichts von der Diagnose gesagt. Warum?
Koch-Mehrin: Ich wollte erst selbst wissen, was los ist. Welche Art von Tumor es ist, welche Therapie infrage kommt und ob der Krebs vererbbar ist. Bei drei Mädchen geht einem das sofort durch den Kopf. Das Ungewisse nicht einordnen können und keine Antworten geben zu können, macht ja oft mehr Angst, als sich einer konkreten schwierigen Situation zu stellen. Deswegen habe ich gewartet. Wichtig war der Ratschlag der Ärztin, die sagte: Die Kinder möchten nur hören, dass Sie weiterleben, egal ob mit einer oder zwei Brüsten, mit oder ohne Haare.
Sie waren damals gerade in New York bei einem Treffen mit einer der engsten Mitarbeiterinnen von Hillary Clinton, als der Anruf von Ihrem Arzt kam, dass eine Brust entfernt werden muss. Wie war das für Sie?
Koch-Mehrin: Erstaunlicherweise war mein erster Gedanke: Ich möchte den Krebs los sein. Und nicht: Was ist mit meiner Brust? Deswegen hat es mich auch sehr geärgert, dass der Arzt sofort sagte: "Dann machen wir eine neue Brust und Sie fühlen sich wieder als Frau." Ich dachte, darum geht es doch hier gar nicht! Ich wollte nur gesund werden. Diese Fixierung auf eine ästhetische Operation fand ich völlig unangebracht. Auch, dass eine Frau nur mit zwei Brüsten existiert. Deshalb habe ich beschlossen, diesem Arzt nicht länger zu vertrauen. Ich fand eine Onkologin, die selbst Brustkrebs mit einer Amputation erlebt hatte und wusste, wovon sie sprach.
Ihr Mann ist Ire. Über ihn schreiben Sie: "Ich fühlte mich geborgen bei diesem lustigen Kerl, der so albern sein und so herrlich fluchen konnte." Wie hat er auf die Diagnose reagiert?
Koch-Mehrin: Mein Mann ist von Grund auf optimistisch. Er hat ein wunderbares Grundvertrauen, dass die Dinge gut werden. Er war immer an meiner Seite. Seine Solidarität ging so weit, dass er sich auch die Haare abrasiert hat.
Ihr Mann hat Sie auch gerettet, als Wolfgang Kubicki vor 20 Jahren nach Brüssel kam, um Ihnen den Job als Generalsekretärin der FDP anzubieten. Kubicki erinnerte sich im vergangenen Herbst so: "Dann trafen wir uns zum Kaffee, und dann habe ich mit ihr geflirtet, und urplötzlich stand ein Typ neben mir, der dreimal so groß war wie ich und zweimal so breit." Wie geht es Ihnen heute damit?
Koch-Mehrin: Ich habe es damals als normal empfunden, dass ein professionelles Gespräch mit nicht Professionellem vermischt wird. Ich war 29 und fand mich gut vorbereitet und schlau, dass ich meinen damaligen Freund gebeten habe, nach einer Stunde dazuzukommen. Man weiß ja nie, was so passieren kann. Da ist die Sensibilität heute zum Glück eine andere. Aber es gibt immer noch viel zu viele Situationen, wo diese Machtspielchen mit blödem Anbaggern verbunden sind. Ich kenne keine Politikerin und auch sonst kaum eine Frau, die solche Situationen nicht schon erlebt hat.
Manche Männer sagen, wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse, wo ein Mann sich fürchten muss, allein mit einer Frau den Aufzug zu betreten.
Koch-Mehrin: Wir Frauen überlegen uns, seit es Aufzüge gibt, ob wir mit einem Mann da reingehen sollen. Und das nicht, weil wir Angst um unseren Ruf haben, sondern weil wir befürchten müssen, dass dort etwas passiert, was wir nicht wollen.
Hatten Sie selbst auch schon so ein Erlebnis?
Koch-Mehrin: Ja, als Praktikantin im Europäischen Parlament. Im Aufzug traf ich auf einen Abgeordneten, der mich von oben bis unten abcheckte und sagte, ich könne mich ja auch mal bei ihm bewerben – gern mit Ganzkörperfoto. Er hätte auch ein schönes Appartement. Ich war damals Anfang 20. Das hat mich sehr verunsichert.
Am Anfang Ihrer Karriere haben Sie sich trotzdem aktiv in diese Männerbünde gedrängt und sind ungefragt mit in die Kneipe. Damals schrieben Sie: "Die Kunst besteht darin, sich Lust darauf zu machen, sich auf die Politik und ihre Machermacker einzulassen." Warum haben Sie das mitgemacht?
Koch-Mehrin: Hätte ich immer Nein gesagt, wäre das nichts geworden mit der Politik. Ich habe vieles als normal empfunden, was ich im Rückblick anders sehe, vor allem sensibilisiert durch meine Töchter. Die Machtverhältnisse waren damals so.
Sie waren 33, als sie nach zehn Jahren die FDP als Spitzenkandidatin wieder ins EU-Parlament brachten. Sie schreiben über Ihre Parteikollegen: "Nach außen feierten sie mich, nach innen feixten sie." Wie haben Sie das ausgehalten?
Koch-Mehrin: Das, was ich beschreibe, ist eine Komponente von Politik, egal in welcher Partei. Die Steigerung Freund, Feind, Parteifreund kommt nicht von ungefähr. Ich habe es ausgehalten, weil ich in Guido Westerwelle einen starken Mentor hatte. Ich hatte das Gefühl, dass das, was ich politisch in Gang setzen kann, wichtiger ist als das, was ich persönlich erlebe.
2007 verloren Sie in der 20. Schwangerschaftswoche Ihr drittes Kind. Zuvor hatten Sie mit einem Bild-Reporter über Ihre Schwangerschaft gesprochen. Jetzt wollten Sie alles geheim halten. Wie hat sich das entwickelt?
Koch-Mehrin: Ich hatte es schon gespürt, doch jetzt war mein Kind tot. Wie betäubt habe ich mich sofort wieder in die Arbeit gestürzt. Dass ich das nicht öffentlich machen wollte, war naiv. Ich war ja vorher schon einmal schwanger und hatte das zum politischen Thema gemacht, auch mit Fotos. Es gab damals auf nationaler Ebene noch keine Frauen, die, während sie im Mandat waren, schwanger wurden.
Als Ihre Doktorarbeit 2011 als Plagiat entlarvt wurde, wurden Sie sehr stark angefeindet. Wie sind Sie damit umgegangen?
Koch-Mehrin: Plagiatsjäger hatten herausgefunden, dass ich schlampig gearbeitet habe – und das war auch so. Die Uni hat mir den Doktortitel aberkannt. Doch man hätte meinen können, ich sei als Massenmörderin entlarvt worden. In den sozialen Medien gab es so viel Häme, Hass und sexualisierte Drohungen. Ich war am Ende.
Sie sind daraufhin von allen politischen Ämtern zurückgetreten. Wie ist Ihr Verhältnis zur FDP heute?
Koch-Mehrin: Ich bin noch Mitglied, aber das war es dann auch. Meine Arbeit heute ist überparteilich.
Sie sind Präsidentin der "Women Political Leaders". Die Leitlinien einer "feministischen Außenpolitik" von Annalena Baerbock hat Wolfgang Kubicki, stellvertretender FDP-Bundesvorsitzender, so kommentiert: "Ich halte wenig vom Konzept der feministischen Außenpolitik, weil es weniger darauf abzielt, diplomatische Verbesserungen zu erwirken als auf die emotionale Befriedigung innenpolitischer Akteure." Was sagen Sie dazu?
Koch-Mehrin: Er sollte noch einmal nachlesen, was feministische Außenpolitik ist, und sich dann wieder äußern.
Es fällt auf, dass außer Annalena Baerbock kaum Frauen bei den Verhandlungen in der Ukraine-Krise beteiligt sind.
Koch-Mehrin: Das stimmt. Doch es macht einen riesigen Unterschied, wenn Frauen an Friedensverhandlungen beteiligt sind. Wir brauchen mehr Frauen, gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in der Finanzpolitik und Digitalisierung. Dafür setzen wir uns mit unserer Stiftung ein. In der EU hat die Botschafterin aus Kroatien jetzt darauf bestanden, dass das Thema mentale Gesundheit bedacht wird. Denn was machen wir mit Männern, die von der Front zurückkehren und die häusliche Gewalt wegen unverarbeiteter Gewalterlebnisse zunimmt?
Abschließend – wie geht es Ihnen heute gesundheitlich?
Koch-Mehrin: Gut. Ich mache sehr diszipliniert alle Untersuchungen. Das Wichtigste ist, einen Umgang mit Nicht-Gesundsein und dem Leben zu finden. Das klappt mal besser, mal weniger gut.