
Herr Messner, Sie werden im September 80 Jahre alt. Mit 60 sind Sie 2000 Kilometer durch die Wüste Gobi gelaufen. Gibt es den Tourengeher Reinhold Messner – in kleinerem Maßstab – auch jetzt noch?
Reinhold Messner: Ja, ich gehe immer noch Wandern. Im Sommer werde ich allerdings mit meiner Frau den Kailash, den 6638 Meter hohen heiligen Berg Tibets, umrunden. Hinauf gehen wir nicht – was wegen der Verehrung dieses Berges auch verboten ist –, sondern wir wandern um ihn herum.
Vor 50 Jahren sind Sie mit Peter Habeler in der Zeit von zehn Stunden durch die Eiger Nordwand geklettert – ein Rekord, der 30 Jahre bis 2004 Bestand haben sollte. Wie stehen Sie heute zu dieser Art Blitz-Alpinismus?
Messner: Das war kein Rekord, denn diese Zeit war nicht vergleichbar. Einen Rekord kann man nur erringen, wenn sich andere auch darum bemühen. Das aber war damals nicht der Fall. Wir hatten eine viel bessere Ausrüstung als unsere Vorgänger in den 1930er-Jahren, die noch in der Wand übernachtet haben.
Das heißt, die Zeit für die Durchsteigung der 1800 Meter hohen Steilwand stand nicht im Vordergrund?
Messner: Nein, sicher nicht. Der Alpinismus, wie ich ihn betrieben habe, hat mit Rekorden nichts zu tun. Es ging um etwas anderes: um Abenteuer und um die Auseinandersetzung mit der Natur. Heute kann man die Eiger Nordwand auf einer präparierten Route ersteigen, und zwar in zwei bis drei Stunden. Daher müssen wir zwischen Alpinismus und Klettersport unterscheiden. Den kann man auch in einer Halle ausüben, was mit Bergsteigen in der Natur gar nichts zu tun hat.
Ihre Kletterwand lag immer unter freiem Himmel…
Messner: In jungen Jahren habe ich rein aus Sicherheitsgründen auf das Tempo in der Wand geachtet. Das Ziel war, den alpinistischen Stil auf die Berge im Himalaja zu übertragen. Wir wollten sie nicht mehr in einer zeitraubenden Expedition besteigen, bei der mehrere Höhenlager errichtet werden müssen. Es ging darum, auf diese Hilfsmittel zu verzichten und die Gipfel genauso zu erreichen wie in den Alpen. Da musste der Aufenthalt in der Todeszone jenseits der 8000 Meter möglichst kurz sein.
Heute sind die 8000er Kulissen eines Ameisen-Alpinismus für Spitzenverdiener. Ist diesen Leuten bewusst, wo sie eigentlich sind, wenn sie eine von Sherpas gespurte Route hinauf- und hinabsteigen?
Messner: Ich nenne das Pisten-Alpinismus. Er ist nur möglich, weil die Sherpas die Strecke in monatelanger Arbeit bauen und herrichten. Das heißt, man findet im Grunde keine Herausforderungen mehr vor. Dank künstlichem Licht sind diese Routen sogar nachts gangbar. Das ist Tourismus, kein Alpinismus. Ich beobachte das heute sehr kritisch.
Warum?
Messner: Der Abenteurer geht dorthin, wo keine Piste für ihn angelegt wird, keine fest installierten Fixseile und keine Aluminiumleitern über Gletscherspalten. Wo es keine Ärzte und Höhenträger für den zusätzlichen Sauerstoff gibt und keine Köche. Der Abenteurer macht mehr oder weniger alles selber. Er trägt auch die Verantwortung allein. Pisten-Touristen geben viel Geld aus, um – wenn nötig – auf den Gipfel getragen zu werden. Diese Menschen haben keine Ahnung von den Leistungen der wahren Alpinisten – von deren Leben, Geschichte und den Narrativen, die sie umgeben.
Das klingt nach einem Alpinismus als Gesamtkunstwerk…
Messner: So in etwa. Nur wenn ich eine alpinistische Tat in eine angemessene Form packe – und da geht es nicht um Moral oder Ethik –, bin ich als Abenteurer authentisch und glaubwürdig. Im Zentrum steht die Art und Weise der Tat, nicht der Fakt, auf einem Gipfel gewesen zu sein. Das gilt am Everest genauso wie am Nanga Parbat oder am K2.
Eine Tat hat auch eine geistige Dimension. Der Laie glaubt, der Alpinist erhalte im Gegenzug für das hohe Risiko eine Ladung Selbsterkenntnis. Sie haben einmal gesagt: "Wir kommen nicht als Erleuchtete zurück." Aber als was denn dann?
Messner: Als jemand, der das Gefühl hat, wiedergeboren zu sein. Das Zurückkommen ist ein Herauskommen aus dem Gefahrenbereich. Die Gefahr zu suchen, ist uns kaum noch vertraut. Der Mensch versucht seit Tausenden Jahren, sie zu minimieren. Das gelingt uns zwar nicht – auch wenn man die große politische Lage anschaut. Aber es gibt den allgemeinen Wunsch, in Sicherheit zu leben. Der Abenteurer bricht mit Absicht aus dieser gesicherten Welt aus. Er geht in eine Welt, in die er nicht gehört. Wir spüren, dass wir dort fehl am Platz sind.
Das Schweizer Fernsehen hat 2018 eine Sendung mit Ihnen mit dem Titel "Dem Tod nahe sein, um zu leben" gezeigt. Galt diese Aussage auch für den 20-jährigen Reinhold Messner, oder haben wir es mit der Quintessenz des gereiften Messners zu tun?
Messner: Das ist natürlich verkürzt, aber ich sage es mal so: Das Wissen, dass wir einmal sterben müssen, ist die Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Natürlich sagen viele: Man darf nicht das Risiko eingehen, auf einem Berg ums Leben zu kommen. Aber wer nicht hinaufsteigt im Bewusstsein, dass man sterben kann, hat vom Berg nichts verstanden. Das ist leider so. Wir können nicht alle Risiken beherrschen – und der Berg ist nur da, er ist absichtslos. Es braucht ein gutes Maß Glück, wenn man aufsteigt. Und es muss kein Achttausender sein.
Im letzten Juli starb der pakistanische Höhenträger Muhammad Hassan in 8200 Metern am K2, dem zweithöchsten Berg der Erde. Ein Video zeigt, wie andere an ihm vorbeigehen. Läuft da etwas falsch im Himalaja-Tourismus?
Messner: Zunächst wurde dieser Höhenträger, der wohl entkräftet war, gesichert und auf den schmalen Pfad im Schnee abgelegt. Die Norwegerin, die einen neuen Rekord aufstellen wollte, gab ihren Leuten den Auftrag, den Mann zu sichern. Sie haben versucht zu helfen. Dann waren da aber so viele Leute unterwegs, dass die einen von den andern dachten: Die Nächsten werden schon helfen und den Mann nach unten bringen.
Einer hofft, dass der andere den Job macht…
Messner: Die Leute waren nicht in der Lage, eine Abseilstruktur herzurichten, weil sie keine Bergsteiger sind – geschweige denn Rettungskräfte! Daran erkennt man, dass dieser Pisten-Alpinismus nicht mehr vertretbar ist. Der hat damit endgültig seine Unschuld verloren. Auch am Everest ist es passiert, dass über einen Sterbenden hinweggestiegen wurde. Je größer die Tourengruppen sind, desto geringer ist die Solidarität. Wer selbst mit Unvermögen zu kämpfen hat, dem fehlt die Empathie für andere. Insgesamt sehe ich es so: Während und durch Corona ist die allgemeine Solidarität geschrumpft und der Egoismus ist gewachsen.
Den Nazis galt der Nanga Parbat wegen fünf gescheiterter Expeditionen als "Deutscher Schicksalsberg". Das war Propaganda – aber ist der Nanga Parbat Reinhold Messners Schicksalsberg?
Messner: Von den Nazis wurde der Nanga Parbat zum Schicksalsberg hochstilisiert, weil dort so viele deutsche Bergsteiger umgekommen sind. Für mich ist es aber eher ein Schlüsselberg, weil ich dort die schlimmsten, aber auch die großartigsten Erlebnisse hatte. Mein Bruder Günter verlor dort sein Leben, 1978 gelang mir dort die erste Alleinbesteigung eines Achttausenders. Wichtig ist mir, den Einheimischen für meine Rettung 1970 zu danken. Ohne sie hätte ich das nicht überlebt.
2023 kam Ihr Name in die Schlagzeilen, nachdem der Bergchronist Eberhard Jurgalski behauptet hatte, Sie hätten bis auf wenige Meter nicht auf dem Gipfel der fast 8100 Meter hohen Annapurna gestanden. Daraufhin wurde Jurgalski von einer Lawine des Zorns aller Messner-Fans erfasst. Hat Sie das gefreut?
Messner: Es hat mich insofern gefreut, als sich gezeigt hat, dass sehr viele Leute verstanden haben, worum es geht. Hätte Herr Jurgalski je ein Buch von mir gelesen, wäre ihm klar geworden, dass ich die Rekordhalterei ablehne. Ich habe die Redaktion des Guinness-Buches gebeten, meinen Namen zu streichen. Dann muss man wissen: Der Gipfel der Annapurna ist kein Punkt, sondern ein 50 Meter langer Grat.
Wo der höchste Punkt variabel sein kann?
Messner: Wegen Schneefalls und Wächtenbildung kann der höchste Punkt mal hier mal dort liegen. Es kann sein, dass Hans Kammerlander und ich wegen Nebels und Sturms den damals allerhöchsten Punkt nicht gesehen haben – wobei ich davon ausgehe, dass wir dort waren. Ich meine, dass Herr Jurgalski seine Bekanntheit auf meinem Rücken erworben und von mir geklaut hat. Das habe ich auch zuvor schon oft erlebt und daher gelassen reagiert. Er hat eben keine Ahnung von der Praxis des Bergsteigens.
Die Basis Ihrer Unterstützung speist sich nicht nur aus Ihren Leistungen, sondern auch aus Ihrem Talent, Ihre Touren in Erzählungen zu gießen. Ist der Autor Reinhold Messner genauso wichtig wie der Bergsteiger Reinhold Messner?
Messner: Für mich ist der traditionelle Alpinismus halb eine Erzählung, die andere Hälfte ist das Tun. Mir geht es um die Emotionen dabei und das Zwischenmenschliche in den Bergsteigergruppen. Dieses Narrativ setzt sich in meinen Museen fort, die wir um ein siebtes erweitern wollen, das hoffentlich im Herbst eröffnet wird. Auf diese Arbeit bin ich stolzer als auf die Erfolge in den Bergen.