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Berlin
Ex-Präsident Gauck: "Nie wieder Krieg? Sagt das Putin!"
Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck bleibt einer der wichtigsten politischen Mahner. Ein Gespräch über Putin, die AfD und warum es Rechtspopulisten im Osten einfacher haben.
Gedenken an den Volksaufstand in der DDR 1953.jpeg       -  Gedenken an den Volksaufstand in der DDR 1953 17.06.2023, Berlin: Tino Chrupalla und Alice Weidel, beide AfD und Bundesvorsitzende, sind bei der zentralen Gedenkfeier für die Opfer des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 auf dem Friedhof Seestraße zu Gast. Der 17. Juni 1953 gilt als Symbol für den Arbeiteraufstand in der DDR. Zwischen 500 000 und einer Million Menschen protestierten im Juni 1953 in der gesamten DDR gegen die SED-Diktatur. Die DDR-Führung ließ den Aufstand durch die Volkspolizei und sowjetische Panzer niederschlagen. Foto: Joerg Carstensen/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Foto: J�rg Carstensen | Gedenken an den Volksaufstand in der DDR 1953 17.06.2023, Berlin: Tino Chrupalla und Alice Weidel, beide AfD und Bundesvorsitzende, sind bei der zentralen Gedenkfeier für die Opfer des Volksaufstands vom 17.
Margit Hufnagel
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:31 Uhr

Herr Gauck, in der Ukraine läuft gerade eine militärische Offensive, die Kämpfe haben zehntausende Menschenleben gekostet, Städte dem Erdboden gleichgemacht. Sie haben früh vor Putin gewarnt. Hätten wir den Krieg in der Ukraine verhindern können?

Joachim Gauck: Wir hätten deutlich mehr Zeichen der Entschlossenheit setzen können. Deshalb war ich auch immer dann mit der deutschen Politik unzufrieden, wenn schon erkennbar war, dass es massive Regelverletzungen oder gar einen Bruch des Völkerrechts gegeben hat und wir trotzdem beschwichtigend und unangemessen reagiert haben. Nicht nur die Amerikaner, sondern vor allem unsere osteuropäischen Nachbarn haben uns gewarnt. Damals hat es die Bundeskanzlerin aber trotzdem für richtig gehalten, an der Gaspipeline NordStream 2 festzuhalten und uns selbst wie auch die Ukraine nicht der Bedrohung entsprechend militärisch zu ertüchtigen. Das war ein Fehler.

Haben wir die Osteuropäer insgesamt zu wenig ernst genommen?

Gauck: Dazu neigen wir leider. In unserem Denken gab es eine Verbindung zwischen Deutschland und Russland. All die Länder, die dazwischen liegen, haben wir für weniger wichtig erachtet. Leider. Weil viele im Westen Putin und seine Schergen, diesen Typus des machtversessenen, vom Kommunismus geprägten Führers, nicht wirklich lesen können. Da waren die Menschen, die den Kommunismus als Zwangsregime erlebt haben, weiten Teilen der westlichen Politik voraus. Doch die hatte so eine Art natürliches Überlegenheitsgefühl, ein Gefühl des Besserwissens. Und aus diesem Gefühl heraus macht man Fehler.

Viele der früheren Sowjetrepubliken haben den Weg in Richtung liberale Demokratie eingeschlagen. Warum ist das in Russland nicht gelungen?

Gauck: Zumindest haben sich viele dieser Länder zu stabilen Demokratien entwickelt. Aber anders als etwa im Westteil der Ukraine oder in Polen, wo es immer eine ideelle Beziehung zum Westen und zu Europa gab, waren die zivilgesellschaftlichen Zentren in den russischen Städten stets sehr schwach. Wenn es soziale Probleme gab, gingen die Menschen durchaus mal auf die Straße. Aber dann hat das Netzwerk von KGB-Leuten rund um Putin immer dafür gesorgt, dass gesellschaftliche Aufbrüche sehr schnell gewaltsam erstickt wurden.

Es gab eine kurze Zeit.

Gauck: Ja, unter Boris Jelzin. Aber da herrschte eine Art Raubtierkapitalismus, in dem sich die Superreichen und Gauner als führende Schicht etablieren konnten. Die Massen litten unter Chaos und Unterversorgung. Das Volk rief nach Sicherheit und Autokraten versprachen genau das. So kam Putin an die Macht.

… ein Mann, den der Westen lange als Freund gesehen hat….

Gauck: Wladimir Putin hat in den ersten Jahren seiner Herrschaft den Westen und die Nato auch selbst nie als Bedrohung gesehen. Das war gar kein Thema. Erst später hat er die angebliche Einkreisung durch die Nato als Begründung genutzt, sich quasi wehren zu müssen. Als ob ihn die Nato jemals bedroht hätte. Nein, das hat sie nicht. Bedroht hat ihn die demokratische Volksbewegung der Ukrainer auf dem Maidan in Kiew, bedroht hat ihn das eigene Volk, das auf den Straßen von Moskau gerufen hat: „Russland ohne Putin“. Putin argumentiert nach kommunistischer Manier: Angeblich werden die Konflikte immer von außen hineingetragen. Leider wird das in manchen Kreisen bis heute geglaubt.

Tatsächlich gibt es viele Menschen, die sagen: Die Ukraine müsse sich doch einfach nur ergeben, dann wäre der Krieg vorbei. Ist das so?

Gauck: Das ist die Hartherzigkeit derer, die nicht gestört werden wollen in ihrem Alltag. Einem Opfer, das überfallen wurde, zu sagen, es soll sich ergeben, würde eine Einladung aussprechen an jeden Aggressor auf dieser Welt: Fahr nur genügend Panzer auf, stell nur genug Bedrohung dar und du wirst deinen Willen bekommen. All die Menschen, die die Ukraine zur Kapitulation auffordern, sollten sich einmal fragen, ob sie selbst es vorziehen würden, unter Putins Knute zu leben. Nie wieder Krieg? Ja, aber das soll man bitte Putin sagen, nicht denen, die sich verteidigen. Ich kann die Menschen nicht verstehen, die Appelle und Briefe an die Regierung schreiben, um zu verhindern, dass wir den Ukrainern Waffen liefern.

Steht es ausgerechnet uns Deutschen zu, den Ukrainern ihre Freiheit untersagen zu wollen?

Gauck: Wenn wir die Geschichte ernst nehmen, dann müssen wir einem Aggressor Grenzen setzen. Ohne Waffengewalt und Kampf stünde Europa heute womöglich noch unter nationalsozialistischer Flagge. Auch als Christ habe ich die Verpflichtung, dem Opfer zu helfen und nicht so zu tun, als müsse das Opfer jetzt brav sein, damit der Aggressor vielleicht ablässt.

Man könne meinen, dass so ein Anschlag auf die freiheitliche Demokratie, wie es der Angriff auf die Ukraine war, in Deutschland zu einer gesellschaftlichen Gegenreaktion führt. Wie nehmen Sie das wahr?

Gauck: Ich erlebe tatsächlich einen sehr interessanten Wandel innerhalb der Bevölkerung. Ausgelöst hat ihn der Bundeskanzler mit seiner Zeitenwende-Rede. Natürlich geschieht so ein Mentalitätswandel sehr langsam. Trotzdem gibt es heute Mehrheiten in der Bevölkerung, die wollen, dass wir unsere Bundeswehr stärken, die sich für die Unterstützung der Ukraine mit Waffen aussprechen. Aber da gibt es auch die anderen, die sagen, das ist nicht unser Krieg. Diese egoistische Haltung mag ich nicht verstehen, nicht als Demokrat und nicht als Christ. Leider gibt es bei uns eine Partei, die ganz dezidiert sagt, dass nicht Werte, sondern nur Interessen wichtig seien. Sie hält diese Art von verweigerter Solidarität noch dazu für eine politische Tugend.

Sie sprechen von der AfD, die in Umfragen auf 18 Prozent Zustimmung kommt.

Gauck: Wir leben in einer Zeit, in der sich Krisen massiv häufen. Das schürt Ängste. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung dürfte Sicherheit für wichtiger erachten als Freiheit. Das ist eigentlich nichts Böses. Aber in Krisen ist dieser Teil der Gesellschaft anfällig für populistische Verführer. Die haben zwar keine Modelle für die Zukunft. Die einzige Botschaft ist, dass alles so sein soll wie früher. Das sehen wir nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Ralf Dahrendorf, der verstorbene liberale Theoretiker, hat einmal gesagt: Wenn die Kräfte der politischen Mitte sich nicht um die Ängste kümmern, dann werden andere Kräfte kommen, die in populistischer Weise mit diesen Ängsten Politik machen.

Nun ist es leider so, dass auch Parteien der Mitte mit den Ängsten der Menschen spielen…

Gauck: Es ist für alle politischen Lager verführerisch, Sorgen für die eigenen Interessen zu nutzen. Allerdings sind die Rechtspopulisten besonders unverschämt. Was mich dabei am meisten ärgert, ist, dass sie selbst gar keine tragfähigen Zukunftsvisionen haben, und dass sie so tun, als wären unsere Politiker mit Gewalt an die Macht gekommen. Dabei haben wir sie gewählt.

Im Osten Deutschlands sind Rechtspopulisten besonders stark. Woran liegt das?

Gauck: Die westdeutschen Bundesländer hatten viel mehr Zeit, die Demokratie zu trainieren. Die Zivilgesellschaft ist dort deutlich stärker als im Osten. Es gibt dort mehr Vereine, mehr engagierte Menschen. Das hat nichts mit Charakter zu tun. „Ossis“ sind nicht undankbar oder mögen gar die Diktatur. Das ist eine Legende. Aber im Osten hat man nicht zwölf Jahre in einer Diktatur gelebt, sondern zwölf plus 44 Jahre. Das ist eine völlig andere Prägung. Gehorsam und Unterwerfung wurden belohnt, eigenständiges Denken hingegen war sehr gefährlich. Statt Eigeninitiative und eigenem Handeln wird Gefolgschaft eingeübt. So entsteht ein ganz eigener Typ Mensch. In alten Zeiten nannte man ihn Untertan. Und ein Untertan erwartet, dass die da oben alles richten. Aber, und das ist mir sehr wichtig zu betonen, diese Menschen sind im Osten in der Minderheit. Die Mehrheit der Ostdeutschen hat erkannt, wie kostbar die Demokratie ist.

Nicht jede Angst der Menschen ist irrational, viele sorgen sich, dass der Wohlstand, den sie sich aufgebaut haben, ihnen wie Sand durch die Finger rinnt.

Gauck: Wenn es so ist, muss man Aufklärungsarbeit betreiben oder auch einmal Politikansätze korrigieren. Wir sehen das gerade bei Wirtschaftsminister Robert Habeck. Er hatte gute Absichten, aber ein handwerklich nicht besonders gelungenes Gesetz auf den Tisch gelegt. Nun ist er ein begabter Politiker und ein guter Erklärer. Aber manch andere können noch nicht einmal erklären, warum sie was wie machen. Dann wird der Zorn in der Bevölkerung noch größer. Redet doch mit den Leuten! Sagt ihnen, warum wir manchmal auch Einschränkungen akzeptieren müssen, warum es auch in einem reichen Land schwierige Phasen gibt. Der Politiker der Zukunft wird dann erfolgreich sein, wenn er das, was er tut, nicht nur in platten Thesen an die Wand schreibt, sondern wenn er imstande ist, sein Tun so zu erklären, dass es alle Gutwilligen verstehen. 

Nehmen wir die Demokratie als zu selbstverständlich? 

Gauck: Das ist ganz sicher so. Das ist wie in einer langen Ehe oder Partnerschaft: Sie sehen gar nicht mehr das Wunderbare. Aus dieser Selbstverständlichkeit erwächst dann oft Gleichgültigkeit - und wenn es schlecht läuft, sogar Missachtung. In der Beziehung zu unserem Gemeinwesen halten wir die Freiheit und die Rechte, die wir haben, für selbstverständlich und glauben, „die da oben“ seien dafür verantwortlich, dass wir uns gut fühlen. Aber so funktioniert das nicht. Institutionen brauchen Menschen, die wissen, was unsere Werte sind, und die Eigenverantwortung übernehmen. 

Was macht Sie - trotz allem - zuversichtlich für die Zukunft?

Gauck: Ich neige ja insgesamt zur Zuversicht. Ich musste mit mir selbst ringen, ob ich mein neues Buch „Erschütterungen“ nennen sollte. Ich mag es lieber, unerschütterlich zu sein. Mein Rat an die Menschen, die verunsichert auf das eigene System blicken, lautet: Schau hin! Wo stand dieses Deutschland nach dem Krieg, und wie überzeugend war die Entwicklung danach, als im Westen eine geachtete Demokratie entstand. Und zudem hat der Osten 1989 gezeigt, dass auch Deutsche Freiheit können und wollen. Wir haben einen großen Fundus an guten Erfahrungen, die sollten wir höher bewerten als die Defizite, die uns ärgern. Wir haben Rechte, die uns keiner nehmen kann. Wir leben im Wohlstand. Wenn wir alle diese Möglichkeiten und Rechte in einem Korb werfen, dann ist der sehr gut gefüllt. Unzählige Menschen in der Welt wünschen sich, sie könnten so leben, wie es uns möglich ist. Deshalb möchte ich, dass wir das Errungene auch verteidigen. Wenn wir eine gute Zukunft haben wollen, ist nicht entscheidend, wie intensiv wir genießen können, sondern wie intensiv wir das schützen und ausbauen können, was wir geschaffen haben.

 
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