
Frau Murad, im August 2014 verübten die Terroristen des Islamischen Staates einen Völkermord an den Jesiden im Nordirak. Viele jesidische Frauen und Kinder haben nur knapp überlebt – auch Sie. Wie geht es Ihnen heute?
Nadia Murad: Vielen Dank, dass Sie mich fragen. Es wird nie wirklich leichter – der Schmerz geht nie ganz weg. Ich denke, das gilt für alle Jesiden. Das Grauen, das wir als Gemeinschaft ertragen mussten, war so groß, dass es Generationen dauern wird, bis wir es überwunden haben. Das liegt zum Teil am Ausmaß des Verlustes und der Gewalt, aber auch, neun Jahre danach, an der fehlenden Gerechtigkeit und den fehlenden internationalen Maßnahmen, um den IS wirklich zur Verantwortung zu ziehen. Zu wissen, dass unsere Täter ungestraft leben können – zu wissen, dass so viele Freunde und Familienangehörige immer noch in Gefangenschaft oder in Massengräbern verschollen sind – das alles macht Heilung und Abschluss unglaublich schwer.
Wie sieht die Situation in Ihrem Heimatland, in der Region Sindschar, heute aus? Was für ein Leben ist dort für die jesidische Gemeinschaft möglich?
Murad: Als der „Islamische Staat“ die Sindschar-Region angegriffen hat, haben sie nicht nur gemordet und vergewaltigt. Sie haben unsere Lebensgrundlage, unsere Infrastruktur und unsere Schulen zerstört. Sie haben unsere Wasserversorgung vergiftet und die Straßen vermint. Sie wollten im wahrsten Sinne des Wortes das Ende der jesidischen Gemeinschaft herbeiführen. Mit unserer Organisation „Nadias Initiative“ haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, den Sindschar langfristig wieder aufzubauen, wobei die Stärkung der Frauen im Mittelpunkt steht. In Zusammenarbeit mit der örtlichen Gemeinschaft baut unsere Organisation in dem Gebiet Bohrloch für Bohrloch, Schule für Schule und Krankenhaus für Krankenhaus wieder auf. Wir wollen ein sicheres, nachhaltiges Umfeld für vertriebene Jesiden schaffen. Es war unglaublich zu sehen, wie Familien in die Gegend zurückkehrten, um ihr Leben wieder aufzubauen: Sie besuchten unsere neu eröffnete Markthalle, gingen wieder zur Schule und nahmen an Programmen für Unternehmensgründungen teil. Aber eine Organisation kann das nicht allein schaffen – wir brauchen Hilfe. Und natürlich finanzielle Mittel. Aber genauso wichtig ist, dass wir dies nicht in einer Region tun können, in der es noch immer instabile Gebiete gibt. Solange die Regierungen des Irak und Kurdistans keinen Sicherheitsplan für die Gebiete ausarbeiten, können wir nicht so schnell arbeiten, wie wir es gerne würden.
Die grausamen Verbrechen wurden vor neun Jahren begangen. Der IS gilt als marginalisiert. Machen Sie sich Sorgen, dass diese Verbrechen über all den anderen Problemen in der Welt vergessen werden könnten?
Murad: Ja, natürlich. Es gibt immer mehr Tragödien und mehr Herzschmerz. In meinem Buch habe ich jedoch geschrieben, dass ich das letzte Mädchen sein möchte, das so etwas durchgemacht hat wie ich. Und solange es keine Gerechtigkeit im Umgang mit dem IS gibt, werden Frauen und Mädchen in Konflikten weiterhin entsetzlicher sexueller Gewalt ausgesetzt sein. Trotz der Tausenden von Beweisen, die gegen den IS gesammelt wurden, gab es nur drei Verurteilungen. Welches Signal sendet das an Soldaten und Kämpfer in der Ukraine, im Sudan und anderswo? Es besagt, dass ihr für eure Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werdet. Es besagt, dass die Welt sexuelle Gewalt als eine akzeptierte Nebenwirkung von Konflikten ansieht. Das werde ich niemals akzeptieren. Man muss auch sagen, dass der IS zwar an den Rand gedrängt wurde, aber nicht völlig verschwunden ist. In einigen Lagern sind die Kämpfer immer noch präsent, und es gibt immer noch Menschen, die an ihrer verdrehten Ideologie festhalten.
Sie haben für Ihren Einsatz den Friedensnobelpreis erhalten. Wie schwierig war und ist es für Sie – vor allem als Frau –, die Verbrechen des IS immer wieder öffentlich anzuprangern?
Murad: Der IS hat die jesidischen Frauen öffentlich und mit Stolz als Kriegswaffe eingesetzt. Er hat sexuelle Gewalt systematisch als Mittel des Völkermordes genutzt, hat damit geprahlt. Die IS-Kämpfer verkauften ihre jesidischen Sklavinnen auf Social-Media-Plattformen und bauten sogar eine Straße zwischen Irak und Syrien speziell für den Frauenhandel. Doch die Welt hat sich auf ihre anderen Verbrechen konzentriert. Auf Geiselnahmen westlicher Männer, auf ihre Zerstörungen und Morde. Daher war es schwierig, die Aufmerksamkeit auf diese andere Facette ihrer völkermörderischen Kampagne zu lenken. Es ist für jede Frau schwierig, vor allem wenn sie aus dieser Region kommt, über konfliktbedingte sexuelle Gewalt und unsere persönlichen Geschichten von Übergriffen und Gefangenschaft zu sprechen.
Unter Jesiden gibt es ohnehin einen sehr restriktiven Umgang mit Sexualität …
Murad: Es gab so viel Scham und Stigmatisierung, die mit der Gewalt des IS einherging. Anfangs auch eine sehr reale Angst, dass wir Frauen von unserer Gemeinschaft nicht mehr akzeptiert werden könnten. Es ist auch deshalb so schwierig, weil man über seine eigenen Erfahrungen und die seiner Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn sprechen muss. Das ist nicht nur ein harmloses Thema für einen Aktivisten. Als ich mit dieser Arbeit begann, waren viele Frauen aus meiner Familie und Gemeinschaft in Gefangenschaft, und ich war immer in Sorge, dass meine Worte ihnen noch mehr Leid zufügen könnten. Es sind immer noch über 2000 Frauen in Gefangenschaft, darunter auch einige meiner Freundinnen. Deshalb bin ich immer sehr vorsichtig, wenn ich über dieses Thema spreche.
Sexualisierte Gewalt in Kriegen ist auch im Krieg in der Ukraine ein Thema. Wie erleben Sie den Umgang mit diesem Thema?
Murad: Es macht mich so wütend, dass Frauen in Kriegszeiten weiterhin so behandelt werden. Seit dem finsteren Mittelalter setzen Männer sexuelle Gewalt ein, um Gemeinschaften zu unterwerfen und zu brechen – doch niemand unternimmt etwas, um dem Einhalt zu gebieten. Ich habe vor kurzem die Ukraine besucht und einige meiner Mitstreiterinnen getroffen, die überlebt haben. Ich hoffe, dass ich ihnen etwas Unterstützung und Liebe anbieten konnte. Ich habe mich mit der First Lady der Ukraine, Olena Selenska, getroffen, um zu erfahren, welche Unterstützung für die Überlebenden bereitgestellt wird. Ich habe sie gebeten, sich für die Wiedergutmachung für diese Frauen einzusetzen, damit sie anfangen können, ihr Leben wieder aufzubauen. Ich habe auch den Murad-Kodex, eine Methode zur Befragung von Überlebenden, in der Ukraine in Aktion erlebt. Daher freue ich mich, dass einige der Frauen, die ihre Geschichte erzählen, dies auf eine Weise tun können, die eine erneute Traumatisierung verhindert.
In Deutschland gab es kürzlich wichtige Urteile – unter anderem in Koblenz und München – gegen Frauen, die jesidische Frauen und Mädchen als Sklavinnen gehalten haben. Sind Sie mit den Urteilen zufrieden?
Murad: Ja, und ich denke, es lohnt sich, darauf hinzuweisen, dass Deutschland ein Vorreiter bei der Verfolgung von Gerechtigkeit für IS-Kämpfer ist – aber leider auch ein Ausreißer. Von den Tausenden von IS-Kämpfern, die ein Trauma verursacht haben, das Generationen überdauern wird, wurden nur drei wegen Völkermordes verurteilt. Ich bin zwar zufrieden mit den Urteilen und bewundere die Kraft, die die jungen jesidischen Frauen aufbrachten, um auszusagen, aber das reicht bei weitem nicht aus. Alle Beweise liegen vor. Diese Männer und Frauen müssen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, und die Kultur der Straflosigkeit muss ein Ende haben.
Die verurteilten Frauen zeigten wenig Reue. Wie soll man das einordnen? Wie können Menschen zu solch grausamen Taten fähig sein?
Murad: Es scheint die Leute zu überraschen, dass Frauen daran teilgenommen haben. Aber die Westler, die mitgemacht haben, wussten, was sie taten. Der IS hat eine grausame Ideologie, die auf grausamer Gewalt beruht. Sie zieht grausame Menschen an. Diejenigen, die sich angeschlossen haben, waren stolz und haben öffentlich damit geprahlt.
Sie haben sich als Kind ihr Leben ohne Zweifel ganz anders vorgestellt. Welchen Traum würden Sie sich gerne noch erfüllen?
Murad: Als kleines Mädchen habe ich davon geträumt, einen Schönheitssalon zu eröffnen und als Friseurin und Visagistin zu arbeiten. Ich habe sogar eigene Zeitschriften mit Looks erstellt, aus denen meine "Kunden" auswählen konnten! Diesen Traum würde ich mir gerne eines Tages erfüllen!