Frau Hoyer, Politiker im Westen schauen angesichts immer neuer Umfragerekorde der AfD mit Sorge nach Ostdeutschland, wo Unzufriedenheit gärt, obwohl unter dem Dach der deutschen Einheit viel erreicht worden ist. Wo sehen Sie die Probleme im aktuellen deutsch-deutschen Verhältnis?
Katja Hoyer: In den neuen Ländern beschäftigen sich die Menschen sicher nicht täglich aufs Eindringlichste mit den Folgen der Wende. Aber es gibt bei einigen eine Grund-Unzufriedenheit, verbunden mit dem Gefühl, nicht richtig dazuzugehören. Man fühlt sich in einer gesamtdeutschen Gesellschaft nicht adäquat repräsentiert und ernst genommen, vor allem nicht in der Politik.
Im Osten ist die Auseinandersetzung mit den Folgen der Wende – "Einheit" sagt man dort selten – präsent. Im Westen spielen sie kaum eine Rolle. Ist man hier zu wenig an den Menschen in den neuen Ländern interessiert?
Hoyer: Im Westen hat man die Jahre 1989/90 viel weniger als im Osten als Umbruch empfunden, und deshalb ist es schwer, sich in die Befindlichkeiten der früheren DDR-Bürger hineinzuversetzen. Die sprechen von der Wende, gerade weil sich ihr Leben grundlegend verändert hat. Wenn man, wie im Westen, so weitergelebt hat wie vorher, ist das schwer nachzuvollziehen. Das Meckern über den Soli war ja nicht Teil einer radikalen Änderung in der eigenen Biografie. Man sieht es im Westen so: Der Osten hat sich erst durch die friedliche Revolution, dann durch Wahlen entschieden, dem Westen beizutreten, auch dessen Mentalität zu übernehmen und dadurch quasi westdeutsch zu werden. Dabei hat man vergessen, dass man im Osten vier Jahrzehnte lang in einem anderen Staat gelebt hat.
Leidet der Osten darunter, dass seit der Wende viele junge Leute in den Westen gezogen sind?
Hoyer: Ja. Man spricht – auch wie in England oder in den USA – von den "Left-behind"-Gruppen, den Zurückgelassenen. Ganze Landstriche verloren tausende Einwohner, und die Menschen, die da noch leben, reden untereinander über Politik und Gesellschaft. Frust und Ärger werden durch mangelnden Austausch, das Fehlen von Kommen und Gehen, verstärkt. Für Städte wie Leipzig oder Jena gilt das natürlich nicht. Aber in Gegenden wie dem Thüringer Wald, wo ich Familie habe, nehmen Menschen sehr lange Pendlerfahrten zur Arbeit in Kauf, weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollen. Andererseits ziehen dort viele weg. Das verstärkt das Gefühl, alleine und quasi vergessen in immer kleineren Kreisen zu leben.
Wie kommt es, dass viele dieser Menschen offen sind für die nationalpopulistischen Aussagen der AfD?
Hoyer: Das große Problem ist: Die Menschen haben das Gefühl, dass sie mit ihren Positionen – weil sie nicht zum politischen Mainstream zählen – nicht gehört werden. Das ist bei Corona sehr deutlich geworden, und es geht weiter. Jedes Mal, wenn ich in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg mit Menschen spreche, habe ich das Gefühl, dass sich das noch mehr radikalisiert und noch wütender wird.
Sind diese Menschen nur in ihrer Blase?
Hoyer: Sie fühlen sich sehr weit entfernt vom politischen Berlin und den Debatten, die man dort führt. Es geht nicht um Gendern oder Nichtgendern, sondern darum, dass die AfD in jedem Städtchen vor Ort ist und mit den Menschen redet. Die Parolen stoßen auf Zustimmung, und das wird von den etablierten Parteien in die Neonazi-Ecke gerückt. Sie wollen "Brandmauern" errichten, aber keinen echten Dialog führen.
Das hat mit Jobs und Geld wenig zu tun?
Hoyer: Kaum. Meistens geht es den Menschen gar nicht so schlecht. Es sind in der Masse die typischen "kleinen Leute", Handwerker und Angestellte des unteren Mittelstands, die in den ländlichen Regionen wohnen. Sie kommen mit ihrem Geld gerade so hin und sagen dann: Olaf Scholz kennt nicht mal die Benzinpreise. Oder: Wie wollen uns "die da oben" in Berlin sagen, wie wir unser Haus heizen sollen! Das ist eine Grundfrustration. Die anderen Parteien sind kaum greifbar, und die AfD springt in die Lücke und schürt ein neues "Wir-gegen-die"-Gefühl.
Das hat mir einer Ostalgie-Haltung gar nichts zu tun?
Hoyer: Nein. Es gibt aber ein Narrativ, dass man schon 1989 auf der Straße war, um sich gegen "die Obrigkeit" aufzulehnen. Das wird heute wieder verwendet. Daher haben die Populisten an die Leipziger Montagsdemos angeknüpft. Jetzt heißt es: Wir wissen, wie Diktatur funktioniert, und lassen uns nicht sagen, wie wir zu leben haben. Die Ostalgiker, wenn es sie denn noch gibt, wenden sich eher der Linkspartei zu, vorwiegend in Thüringen, wo die Linke stark ist.
Ist das eine Art Montagsdemo – nur AfD-blau eingefärbt?
Hoyer: Nicht ganz. Die meisten AfD-Wähler gehen nicht auf die Straße, sie machen einfach still ihr Kreuzchen. Politik ist nicht unbedingt ihr Lebensmittelpunkt, sondern etwas, was die Menschen ärgert, wenn sie zu Hause darüber reden oder Nachrichten schauen. Daher sind sie für die Politik nicht sichtbar, und man kommt schwer an sie ran. Die Debatte etwa um das Heizungsgesetz hat bei ihnen ein Fass zum Überlaufen gebracht, und sie votieren in Umfragen für die AfD. Ob sie die dann wählen, ist eine andere Frage.