Herr Baum, in seiner 74-jährigen Geschichte war das Grundgesetz selten so unter Druck wie in den zurückliegenden Jahren. Ist den Deutschen die Bedeutung ihrer Verfassung bewusst?
Gerhart Baum: Nein. Die Demokraten müssen endlich aufwachen. Die AfD ist die größte Bedrohung unserer freiheitlichen Grundordnung seit 1945. Eine solche Partei, die offen verfassungsfeindliche Ziele verfolgt und diese in dieser Beständigkeit und Stärke vertritt, hat es bisher nicht gegeben. In Magdeburg ist die letzte Maske gefallen: Diese Partei will alles zerstören, was wir an Demokratie in unserem Land und in Europa aufgebaut haben. Schon die Absage an Europa ist verfassungsfeindlich, vor allem aber der völkische Rassismus. Das ist eine verfassungsfeindliche Position, das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Das ist Naziideologie. Die Nazis, die wir nach dem Krieg heftig und mit Erfolg bekämpft haben, die sind wieder da. Die Wortmeldungen auf dem AfD-Parteitag sind erschreckend. Höcke hat die Macht übernommen. Und was machen wir?
Eine Möglichkeit, der AfD zu begegnen, wäre, ein Parteiverbotsverfahren anzustrengen. Das erlaubt das Grundgesetz.
Baum: Ein Verbot würde ich jetzt nicht verfolgen, aber wir müssen uns politisch wehren. Die Gefahren müssen genau benannt werden. Es ist ja nicht nur die AfD. Es sind die braunen Netzwerke, die in die Gesellschaft hineinwuchern, eine Radikalisierung der Mitte, vor der die Sicherheitsbehörden schon lange warnen. Auf keinen Fall darf die Gefahr verharmlost werden. Das ist mehr als Protest, mehr als Ausdruck "schlechter Laune", wie der Bundeskanzler meint. Er sollte nun endlich Klartext reden. Das ist auch eine "Zeitenwende", die er benennen muss.
Sie sagen, Olaf Scholz verharmlose die Gefahr durch die AfD. Wie würden Sie die kürzlich getätigten Äußerungen von Friedrich Merz zu einer möglichen Kooperation der CDU mit der AfD auf kommunaler Ebene einschätzen?
Baum: Das war genau der falsche Weg. Merz öffnet gedanklich die Tür zur Kooperation mit der AfD. Er holt damit die AfD gedanklich in den demokratischen Konsens zurück. Sie ist aber nicht im demokratischen Konsens. Merz hat gezündelt.
Woher kommt die von Ihnen skizzierte Radikalisierung der Mitte?
Baum: Schon länger gibt es hierzulande einen Trend, das System und seine Spielregeln herabzusetzen und verächtlich zu machen. Gruppen rotten sich im Internet hinter Verschwörungstheorien zusammen. Jeder Anlass wird genutzt: Covid, Ukraine und vor allem das Flüchtlingsproblem. Es gibt auch Wurzeln in der deutschen Geschichte. Vergessen wir nicht: Wir sind erst spät in der Demokratie angekommen – erst mit dem Grundgesetz. Deutsche waren lange Zeit völkisch verführbar, Nationalstaat war wichtiger als Freiheit. Es gibt also tiefere Wurzeln. Natürlich ist es aber auch die aktuelle Politik.
Was erwarten Sie von der Politik?
Baum: Die Parteien sollten den Weg weisen. Was ich meine: wieder hin zu einer Solidargemeinschaft wie in den schweren Zeiten nach dem Krieg. Sie müssen aufklären, auf berechtigte Ängste eingehen. Natürlich bereitet das Flüchtlingsproblem Sorgen. Aber die Wahrheit ist, dass es verdammt schwierig ist, es zu lösen. Also Verzicht auf billigen Populismus. Ein weiteres Problem ist die Zuwanderung. Sagt uns die Politik eigentlich deutlich genug, dass wir jährlich eine Zuwanderung von mindestens 400.000 Arbeitskräften brauchen, um unseren Wohlstand zu halten? Wie passt das zu den Überfremdungsängsten? Zur Lösung all dieser Probleme sagt die AfD nichts. Und machen wir uns endlich klar: Das interessiert deren Wähler überhaupt nicht. Und einer weiteren Täuschung sollten wir uns nicht hingeben, selbst wenn die Umfragezahlen zurückgehen. Das Problem bleibt.
Sie selbst sind 1932 geboren und in Zeiten der Nazi-Diktatur aufgewachsen. Sie überlebten die Bombardierung Dresdens im Keller eines brennenden Hauses. Was lösen die Umfrage- und Wahlergebnisse der AfD in Ihnen aus?
Baum: Es ist nicht nur die AfD, sondern ein Trend, der schon lange anhält. Es ist eine Radikalisierung, die bis ins Bürgertum hineingeht. An der AfD ist das nur deutlich sichtbar. Sie müssen sehen: Die Deutschen sind erst 1949 in der Demokratie angekommen. Vorher war es ein Scheitern. Die Frankfurter Paulskirche war ein Scheitern ebenso die Weimarer Republik. Da lebt noch einiges an Deutschnationalem fort in einem falschen Heimatbegriff und deutscher Überheblichkeit und Arroganz. Und es lebt vor allem eine Form des Rassismus fort, die nie zur deutschen Normalität gehören darf. Wenn andere Völker auch Nationalpopulisten haben, so ist das keine Entschuldigung für uns. Wir haben den größten rassistischen Massenmord der neueren Geschichte zu verantworten.
Wie optimistisch sind Sie, dass sich die deutsche Demokratie als widerstandsfähig erweisen wird?
Baum: Nur dann, wenn wir kämpfen. Das hat der Bundespräsident jetzt in Herrenchiemsee klar zum Ausdruck gebracht. Wir dürfen die Demokratie nicht selber schwächen. Wir müssen ihr in schweren Zeiten eine Zukunftsperspektive geben. Wir müssen versuchen, sie in ihren Gefühlen, nicht nur in ihrem Verstand zu erreichen. Vor allem aber müssen wir denen, die sich möglicherweise verirrt haben, sagen, dass jede Stimme, jede Sympathie für die AfD ein Angriff auf unsere Demokratie und auf Europa ist, dieses wunderbare Friedens- und Freiheitsprojekt. Ich bin optimistisch. Wir haben die Kraft, das alles zu bestehen und uns dagegen zu wehren. Wir müssen die Demokratie verteidigen. Das ist ein Appell, auch an die junge Generation. Diejenigen, die sich gegen die Klimakatastrophe engagieren, sollten sich bewusst sein, dass ohne Demokratien und mit rechten Parteien das Ziel nicht zu erreichen ist.