
Herr Hahn, Donald Trump sagt, dass er säumige Nato-Verbündete nicht mehr schützen würde, sollte er erneut amerikanischer Präsident werden – mehr noch, er würde Putin sogar zum Angriff auf säumige Beitragszahler in Europa einladen. Hat Europa diesen Weckruf verstanden?
Johannes Hahn: Das hat Europa schon während Trumps erster und hoffentlich einziger Amtsperiode verstanden. Es ist legitim, wenn Amerika seine Interessen verfolgt. Diese Interessen sind in weiten Teilen mit unseren identisch, aber eben nicht immer. Daher haben wir auf den Weckruf auch sofort reagiert. Zum Beispiel hat die EU jetzt das erste Mal ein ordentliches Verteidigungsbudget, das auf einen gemeinsamen Einkauf und eine gemeinsame Entwicklung in der Verteidigungspolitik abzielt.
Also hatte Trump recht, dass die Europäer selbst mehr für ihre Sicherheit tun müssen?
Hahn: In diesem Punkt hatte Trump recht, aber er war ja nicht der erste US-Präsident, der das sagte, denken Sie nur an Barack Obama. In der Sache war die Kritik aus den USA berechtigt. Aber die richtige Dynamik in die Entwicklung unserer gemeinsamen Sicherheitspolitik hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gebracht. Jetzt erhöhen viele EU-Staaten ihre Verteidigungsausgaben, darunter auch Deutschland. Das Problem ist nur: Einfach mit mehr Geld ist es nicht getan. Die Mittel müssen auch möglichst effektiv verwendet werden. Und hier habe ich gewisse Sorgen …
… weil in Europa jeder Mitgliedsstaat sein Geld für eigene Projekte ausgibt.
Hahn: Ja, Europa hat aktuell 17 verschiedene Panzertypen, die USA nur einen. Wir haben 29 unterschiedliche Marinekreuzer und Zerstörer-Systeme – und das, obwohl einige EU-Länder gar keine Küste haben. Das bedeutet, dass Europas Rüstungsfirmen oft in Kleinstserien produzieren und daher ineffizient sind. Ob uns das gefällt oder nicht, die Verteidigungsindustrie hat auch eine diplomatische Bedeutung: Wenn Europa hier nichts anzubieten hat, kaufen Staaten ihre Waffen in Russland und begeben sich damit in politische Abhängigkeit. Unser Ziel ist daher klar: Wir müssen die Zahl der Systeme reduzieren und vereinheitlichen.
Heute reicht es ja noch nicht einmal dazu, der Ukraine die versprochene Million Schuss Artilleriemunition zu schicken. Wenn EU-Politikern bei der Münchener Sicherheitskonferenz dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj begegnen, droht das fast peinlich zu werden, oder?
Hahn: Wir sollten uns nicht kleiner machen, als wir es sind. Munition wurde immer nur nach Bedarf produziert. Deshalb haben wir in der Vergangenheit viele Produktionskapazitäten abgebaut, die wir jetzt wieder aufbauen müssen. Aber wir machen Fortschritte: Bis zum Zieldatum März können wir immerhin bereits 500.200 Schuss Artilleriemunition liefern. Und wir werden bis Jahresende so große Produktionskapazitäten haben, dass wir ab nächstem Jahr zwei Millionen Artilleriegranaten produzieren können.
Die Spitzenkandidatin der SPD bei der Europawahl, Katarina Barley, geht noch einen großen Schritt weiter und sagt, dass für die EU sogar eigene Atomwaffen ein Thema werden könnten. Was halten Sie davon?
Hahn: Nichts ist mehr undenkbar. Sicher, ich glaube nicht, dass Deutschland jetzt selbst Atommacht wird. Aber wir haben in Europa mit Frankreich und Großbritannien zwei Atommächte. Da bietet es sich regelrecht an, zusammenzuarbeiten, um ganz Europa vor möglichen Angriffen zu schützen.
Koordination erscheint in der EU oft schwierig, wie man zuletzt an dem Gerangel um die Freigabe von 50 Milliarden Euro an Hilfsgeldern für Kiew sehen konnte. Wie haben Sie es geschafft, dass Ungarns Premier Viktor Orbán nach wochenlanger Blockade doch noch zugestimmt hat?
Hahn: Als kleines Land in Europa ist es besser, Teil einer großen Familie zu sein. Und Mitgestalten ist besser als Verschleppungstaktik. Beides hat letztendlich auch Orbán verstanden. Ungarn hat ernste wirtschaftliche Probleme und zahlt am Kapitalmarkt mit die höchsten Zinsen für Staatsanleihen. Im nächsten Halbjahr wird Ungarn zudem die EU-Präsidentschaft innehaben, da ist konstruktive Zusammenarbeit gefragt. Und es ist nicht hilfreich, wenn Orbán als ständiger Problembär wahrgenommen wird. Und noch ein Gedanke: Orbán ist gemeinsam mit Rutte der dienstälteste Premier im Rat. Wenn Orbán dieses Senioritätsprinzip nutzen würde, könnte er für sein Land viel mehr erreichen als mit seiner bisherigen Art von Obstruktionspolitik.
Orbán hat diesen Hebel ja nur, weil in Europa in wichtigen Fragen das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Ist das in der heutigen Zeit der Krisen noch zeitgemäß?
Hahn: Nein. Das Einstimmigkeitsprinzip in der EU ist nicht mehr zeitgemäß, in Zeiten globaler Krisen ist es sogar kontraproduktiv, vor allem in der Außenpolitik. Auf der anderen Seite sehen wir, dass Europa bei den Ukraine Hilfen immer noch schneller ist als die USA, wo es nur um eine Mehrheitsentscheidung geht. Deshalb kann man trotz aller Schwierigkeiten sagen: Europa liefert am Ende des Tages. Und darauf kann man stolz sein.
Aber warum dauert es in der EU immer so lange?
Hahn: Ich vergleiche das mit einem Flugzeug, das am Ziel landen soll. Wenn wir privat unterwegs sind, wollen wir natürlich so schnell wie möglich landen. In der Politik lässt man den Flieger so lange um den Flughafen kreisen, bis der Sprit ausgeht und man gezwungen ist zu landen. Meist gibt es auch im Europäischen Rat erst unter Druck die Kompromisse und Entscheidungen, die man eigentlich auch hätte früher treffen können. Das scheint zum Wesen europäischer Politik zu gehören.
Dazu kommt, dass Sie als Haushaltskommissar mit einem Sieben-Jahres-Etat arbeiten müssen, der zu Beginn der Coronapandemie und vor dem Ukraine-Krieg beschlossen wurde, also im Grunde gar nicht mehr aktuell ist. Geht Europa das Geld aus, um den aktuellen Krisen zu begegnen?
Hahn: Ein Mehrjahresbudget ist wegen seiner Verlässlichkeit wertvoll, weil viele EU-Projekte über Jahre finanziert werden können. Das Problem ist die mangelnde Flexibilität für unvorhergesehene Dinge, weil praktisch alles verplant ist. Dann ist das Umschichten der Gelder sehr kompliziert, weil man dafür immer jemanden im Haushalt wieder etwas wegnehmen muss. Dann sind Sie schnell bei Fragen wie: Ist Geld für die Ukraine wichtiger als Agrarbeihilfen für die Bauern in der EU? Das ist gefährlich. Wir brauchen hier mehr Flexibilität mit einem Polster für ungeplante Ausgaben.
Sie sind einer der dienstältesten Kommissare und beenden ihre EU-Karriere dieses Jahr. Wie hat sich die EU aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren verändert?
Hahn: Die EU war früher stark nach innen orientiert. Heute muss sie sich in Zeiten internationaler Krisen nach außen behaupten. Zugleich erleben wir bei der Arbeit in Brüssel weniger Beständigkeit, weil nationale Regierungen immer häufiger wechseln. Auch in Deutschland sehen wir, dass die Regierungskoalitionen komplexer zusammengesetzt sind. Das macht die Zusammenarbeit kurzlebiger und komplizierter. Wenn Regierungen ständig um ihr Überleben bei der nächsten Wahl kämpfen müssen, leidet der staatsmännische Weitblick.
In Brüssel sind viele genervt, weil Deutschland etwa durch das Veto der FDP auf europäischem Parkett nicht entscheiden kann. Ist Deutschland noch ein verlässlicher Partner?
Hahn: Deutschland spielt als größte Volkswirtschaft eine wichtige Rolle in der EU. Daher gilt auch: Wenn die deutsche Regierung zu keiner einheitlichen Sichtweise in wichtigen Fragen kommt, dann ist das problematischer als bei anderen, kleineren Ländern. Das Schlimmste, was uns in Europa passieren kann, ist, wenn Deutschland und Frankreich nicht entscheiden und ein Vakuum entsteht. Leider ist das derzeit oft der Fall. Und ohne diese beiden Führungsnationen geht in Europa wenig voran.
Muss Deutschland bei manchen Vorhaben, etwa im Klimaschutz und in der Landwirtschaft, vielleicht einfach deshalb bremsen, weil man die kriselnde Wirtschaft nicht noch mehr belasten kann?
Hahn: Europa und gerade auch Deutschland haben sich bisher in drei Komfortzonen aufgehalten, die keinen Bestand mehr haben: billige Energie aus Russland, ein Sicherheitsschutzschirm durch die USA und billige Technologielieferanten aus Fernost. Alles vorbei. Deutschland trifft das noch härter als den Rest der EU. Wir erleben nicht eine Krise, sondern multiple Krisen. Das erschöpft auch die Menschen, wie man am Aufstieg der Protestparteien in ganz Europa sehen kann. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland mit einer einheitlichen starken Stimme als verlässlicher Partner in der EU präsent ist.
Diese Krisen will nun künftig weiterhin Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lösen. Nach allem, was man weiß, will sie sich für eine zweite Amtszeit bewerben. Ist sie die Richtige für die nächsten Jahre?
Hahn: Auf jeden Fall. Frau von der Leyen hat in zwei großen Krisen – Pandemie und Krieg gegen die Ukraine – Leadership gezeigt. Sie kann also mit ihrer guten Bilanz aus den vergangenen Jahren für sich werben.
Zur Person Der 66-jährige Österreicher Johannes Hahn ist seit 2019 EU-Haushaltskommissar. Zuvor war der ÖVP-Politiker, ab 2010 erst Regional- und dann Erweiterungskommissar der EU. Bevor er nach Brüssel wechselte, war Hahn drei Jahre österreichischer Wissenschaftsminister.