Herr Ministerpräsident, durch den Krieg in der Ukraine hat sich die Situation in Europa gravierend verändert. Macht Ihnen die Entwicklung Angst?
Daniel Günther: Sie treibt mich auf jeden Fall um. Wir haben es mit fundamentalen Veränderungen zu tun, die sich der Großteil der Bevölkerung gar nicht mehr hätte vorstellen können. Wir waren es in Europa jahrzehntelang gewohnt, dass ein Krieg auf unserem Kontinent nahezu nicht mehr vorkam. Jetzt ist das Thema in einer Dramatik zurückgekehrt und stellt eine Bedrohungslage dar, die vielen Menschen Sorge bereitet. Darauf müssen wir als Politiker reagieren. Denn wir sind in vielen Bereichen noch nicht in der Art und Weise auf die veränderte Lage vorbereitet, wie es eigentlich notwendig ist.
Mit Blick auf die Ukraine werden die Bundesregierung und Kanzler Olaf Scholz in der Regel dazu aufgefordert, immer noch mehr Waffen zu liefern. Die Frage ließe sich auch andersherum stellen: Hat Deutschland womöglich schon so viele Waffen geliefert, dass die Fähigkeit zur Landesverteidigung gefährdet ist? Muss das Volumen also perspektivisch zurückgefahren und die Verantwortung anderer Staaten stärker betont werden?
Günther: Wir müssen für die Ausrüstung unserer eigenen Bundeswehr mehr tun, ohne die Unterstützung der Ukraine zu vermindern. Das bedeutet, dass wir das Zwei-Prozent-Ziel der Nato wirklich dauerhaft einhalten und das auch im Haushalt so abbilden müssen. Diese Priorisierung vor dem Hintergrund knapper Kassen ist eine Herausforderung. Aber es führt kein Weg daran vorbei. Die Bundeswehr muss besser ausgestattet werden, das wiederum darf nicht auf Kosten der Unterstützung gehen. Wir haben ein fundamentales Sicherheitsinteresse daran, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Sie führt diesen Kampf für uns alle, unsere Freiheit, Werte und Demokratie.
Als Reaktion auf die veränderte Sicherheitslage hat der CDU-Parteitag vergangene Woche eine Aktivierung der ausgesetzten Wehrpflicht beschlossen. Sie persönlich haben sich intensiv dafür eingesetzt. Wieso haben Sie diese Position unterstützt, obwohl Sie um deren Schwierigkeiten wissen?
Günther: Die Wehrpflicht sehen wir als Übergangsmodell hin zu einer allgemeinen Dienstpflicht. Für diese werbe ich schon längere Zeit. Wir brauchen junge Menschen, die bereit sind, ihren Dienst fürs Heimatland zu leisten. Das bedeutet übrigens nicht nur Wehrdienst, sondern ausdrücklich auch Zivildienst.
Verteidigungsminister Boris Pistorius und Kanzler Olaf Scholz haben Sympathie für das schwedische Wehrpflichtmodell. Alle jungen Menschen eines Jahrgangs – Männer wie Frauen – werden gemustert, aber nur die besten werden eingezogen. Da stellt sich doch automatisch die Frage nach der Gerechtigkeit: Warum muss nur ein Teil eines Jahrgangs einrücken, während ein anderer über sein Leben frei verfügen darf?
Günther: Wir plädieren als CDU für eine Kontingent-Wehrpflicht in einer Übergangsphase. Die Bundeswehr könnte keinen kompletten Jahrgang aufnehmen, es fehlen Kasernen und die Kreiswehrersatzämter zur Musterung. Die Kontingent-Wehrpflicht muss natürlich verfassungskonform umgesetzt sein. Die Frage der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern beantworten wir damit, dass die Wehrpflicht für Männer und Frauen gelten muss. Für uns ist das in Zeiten der Gleichberechtigung selbstverständlich. Langfristig muss die Wehrpflicht dann mit der allgemeinen Dienstpflicht auf eine neue Basis gestellt werden.
Um Frauen zum Dienst zu verpflichten, müssten Sie die Verfassung ändern, wofür es aber keine Mehrheit gibt.
Günther: Insbesondere bei einer dauerhaften Dienstpflicht bin ich sicher, dass wir dafür die notwendigen Mehrheiten zusammenbekommen. Uns ist aber klar, dass das nicht über Nacht passiert.
Themenwechsel: In der Debatte über die AfD geht es in den Begrifflichkeiten oft auch um Schutz. Von einer Brandmauer ist die Rede. Wenn die eingerissen werde, wenn die Dämme brechen, dann sei die Demokratie gefährdet, sie werde womöglich gar von Rechten überflutet wie einst in der Weimarer Republik. Sie sind auch Politikwissenschaftler. Stimmt das Bild?
Günther: Nach meiner festen Überzeugung müssen sich alle demokratischen Parteien gegenüber der AfD deutlich abgrenzen. Es ist nicht allein Aufgabe der Union, Bollwerk zu sein. Wenn ich mir die Entwicklung in der Weimarer Republik anschaue, dann war die Distanz damals nicht groß genug. Die muss heute unverrückbar sein. Klar ist auch: Für uns Christdemokratinnen und Christdemokraten kommt eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht infrage.
Im neuen CDU-Grundsatzprogramm heißt es: „Rechtsextremismus und Linksextremismus dürfen keinen Platz in unserer Gesellschaft haben.“ Das impliziert, die AfD sei genauso gefährlich wie die Linke. Sie sind da anderer Meinung, werben für einen offenen Umgang auch mit Blick auf Koalitionsoptionen nach den Ost-Landtagswahlen im September. Haben Sie nach dem Parteitag Ihre Meinung geändert?
Günther: Ich wehre mich gegen Extremismus in allen Bereichen, da mache ich keinen Unterschied zwischen Links- und Rechtsextremismus oder auch religiös motiviertem Extremismus. Sie alle sind demokratiegefährdend. Ich bin aber der Meinung, dass es keine Äquidistanz zur Linkspartei und zur AfD gibt.
Im Zusammenhang mit der AfD wird oft nach dem Staat gerufen, die Politik solle ein Verbot der Partei prüfen, heißt es. Wie stehen Sie dazu?
Günther: Wir haben bei unserer Vorstandsklausur im Januar gesagt: Ignorieren geht nicht, sondern die AfD muss in allen Punkten gestellt werden. Das war ein absolut richtiger Strategiewechsel. Auch der gesellschaftliche Protest gegen diese Partei ist ja seit Beginn des Jahres immer lauter geworden. Dazu kommen noch die aktuellen Vorwürfe wegen Käuflichkeit durch autokratische Regime gegen AfD-Europawahl-Kandidaten. Das alles entfaltet seine Wirkung, wie die Umfragewerte der AfD zeigen. Gleichzeitig muss eine Demokratie bereit sein, für ihren Schutz alle dazu zur Verfügung stehenden Instrumente des Rechtsstaats zu nutzen. Dazu gehört auch ein mögliches Verbotsverfahren. Aber auch da bleibe ich bei meiner Auffassung, dass dies gut vorbereitet sein muss. Das Scheitern eines solchen Verbotsverfahrens wäre absolut kontraproduktiv. Wenn man diesen Weg gehen will, muss das vom Bund vernünftig vorbereitet werden.
Mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht gibt es eine neue Partei, die um die Stimmen der Wähler wirbt. Wie blicken Sie auf dieses Projekt?
Günther:: Ich halte davon nichts. Es ist Ausdruck einer immer größer werdenden Individualisierung, wenn man glaubt, dass man für jede politische Positionierung eine neue Partei braucht und sich irgendwie einen kleinen Platz im System sichern will. Darauf liegt kein Segen. Es macht unser Land nicht besser, es wird eher schwieriger, stabile Regierungskoalitionen zu bilden. Alle Menschen, die unzufrieden mit der Politik sind und meinen, es gehe zu langsam in Deutschland, sollten bedenken, dass eine Zersplitterung des Parteiensystems alles noch schwieriger, komplizierter und langwieriger macht.
Ein flammendes Plädoyer …
Günther: Wir haben Parteien, die das Land stark gemacht haben. Da kann man immer Entscheidungen kritisieren, völlig klar. Ich werbe sehr dafür, dass die Parteien, die unsere Demokratie stärken, unser Land auch in den nächsten Jahren prägen sollten.
Friedrich Merz hat bei seiner Wiederwahl auf dem CDU-Parteitag ein gutes Ergebnis eingefahren. Sie haben ihn als „hervorragenden Partei- und Fraktionsvorsitzenden“ gelobt. Viele Beobachter hatten den Eindruck, dass die Kanzlerkandidatenfrage mit diesem Parteitag erledigt ist und nur noch Friedrich Merz selbst sich stoppen kann. Eine richtige Einschätzung?
Günther: Richtig ist, dass ich gesagt habe, Friedrich Merz ist ein sehr guter Partei- und Fraktionsvorsitzender. Ich fand seine Rede wirklich stark, sie war den Zeiten angemessen, in denen wir leben. Zur K-Frage sage ich nur das, worauf sich unsere Partei miteinander verständigt hat: Die Entscheidung treffen wir nach den Landtagswahlen im Osten, und deswegen spekuliere ich darüber jetzt nicht.
Wir versuchen es trotzdem. Könnte Plan B sein, dass Herr Merz am Ende das Schloss Bellevue ins Visier nimmt und Bundespräsident werden will?
Günther: Guter Versuch. Aber das müssen Sie Friedrich Merz fragen. Ich kann nur sagen: Wir sind uns sehr bewusst, dass wir als Union eine Riesenverantwortung haben in dieser krisenhaften Zeit mit ihren großen Verunsicherungen. Das gilt für die gesamte Partei, das haben wir mit dem gerade beschlossenen Grundsatzprogramm gezeigt. Es gibt eine große Unzufriedenheit mit der Politik, die sich vor allem auf die Ampel kapriziert. Wir wissen, dass wir deshalb eine große Aufgabe vor uns haben, wenn wir 2025 die Regierungsverantwortung übernehmen wollen. Die Menschen setzen ihre Hoffnung in eine Partei, die das Land lange geprägt hat. Der wollen wir gerecht werden.