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Berlin
"Auf die Langlebigkeit der Bundesrepublik kann man mit gewissem Stolz blicken"
Mit dem heutigen Tag ist die Bundesrepublik älter als Kaiserreich, Weimar und Drittes Reich zusammen. Der Historiker Eckart Conze erläutert die Gründe für diese Stabilität.
Tag der Deutschen Einheit.jpeg       -  Die deutsche Flagge im Sonnenlicht – ab Freitag, dem 15. September 2023, besteht die Bundesrepublik länger als des Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich zusammen.
Foto: Fernando Gutierrez-Juarez, dpa (Archivbild) | Die deutsche Flagge im Sonnenlicht – ab Freitag, dem 15. September 2023, besteht die Bundesrepublik länger als des Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich zusammen.
Alexander Michel
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:32 Uhr

Herr Conze, die Menschen blicken gern auf persönliche Zeiträume zurück. Man gliedert sie und feiert Geburtstag oder goldene Hochzeit. Heute tritt für die Bundesrepublik so ein Datum ein: Mit dem heutigen Tag ist sie älter als Kaiserreich, Weimar und Drittes Reich zusammen. Was löst das bei Ihnen aus?

Eckart Conze: Dieses Datum ist zwar eigenwillig gesetzt, aber auch einleuchtend. Was hier erkennbar wird, ist eine ungewöhnliche Stabilität der politischen Verhältnisse. Das ist im jüngeren Erfahrungshorizont gerade der deutschen Geschichte wirklich außergewöhnlich und alles andere als selbstverständlich. Während das Kaiserreich von seiner Gründung 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vergleichsweise lange existierte, fast fünf Jahrzehnte, war die aus der Revolution 1918 hervorgegangene Weimarer Republik politisch instabil und kurzlebig. Ihr folgte die NS-Diktatur, die, verbunden mit Gewalt und Verbrechen, im Zweiten Weltkrieg endete. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Jahrzehnte seit 1949 nicht nur in der Wahrnehmung der Menschen, sondern auch objektiv ganz anders dar. Das ist Teil der immer wieder beschworenen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Wir sehen heute im Unterschied zu früheren politischen Ordnungen Dauer, Kontinuität und Stabilität – und dies in einer freiheitlichen Demokratie.

Von "Wir sind wieder wer" nach der Fußball-WM 1954 über das Wirtschaftswunder bis "Wir sind Papst" 2005: Es kann quasi eine bundesrepublikanische Stolz-Geschichte geschrieben werden. Wie wichtig ist das für eine Gesellschaft auch im Sinne eines identitätsstiftenden Bindemittels?

Conze: Auf die Langlebigkeit der Bundesrepublik kann man angesichts der historischen Erfahrungen vor 1945 mit einem gewissen Stolz blicken. Das meint nicht zwangsläufig Nationalstolz, aber für einen demokratischen Stolz gibt es durchaus Gründe. Bei allen Herausforderungen, die es in den vergangenen Jahrzehnten gab und die es immer noch gibt, hat das politische System der Bundesrepublik ganz anders als beispielsweise die Weimarer Demokratie vor einhundert Jahren eine breite Akzeptanz gewonnen. Das wirkt identitätsstiftend im Sinne eines Bekenntnisses zu einem Gemeinwesen, das nicht nur eine stabile politische Ordnung etabliert und gesichert hat, sondern auch ein hohes Maß an Wohlstand sowie Sozial- und Rechtsstaatlichkeit hervorgebracht hat. Und man muss sehen: Die 1990 erreichte deutsche Einheit hat diese Erfolgsgeschichte der ersten 40 Jahre bestätigt, und zwar in der Wahrnehmung sowohl der West- als auch der Ostdeutschen.

Die Erfolge sind jedoch keine Selbstläufer. Seit den 90er Jahren erleben wir eine Abfolge von Krisen. Wo liegen die Herausforderungen?

Conze: Anders als erhofft, sind die letzten Jahrzehnte nicht zu einer Phase des Friedens und der demokratischen Stabilität in Europa geworden, trotz aller Hoffnungen in den Jahren unmittelbar nach 1990. Die Bundesrepublik ist zusammen mit ihren Nachbarn mit enormen Herausforderungen und Bedrohungen konfrontiert. Stichworte sind Globalisierung, Migration und Klimawandel. Bis Februar vergangenen Jahres hat niemand geglaubt, dass der Aggressionskrieg wieder nach Europa zurückkehren und die politische Tagesordnung beherrschen würde. Vor diesem Hintergrund ist die Kontinuität seit 1949 zwar beruhigend. Aber allein darauf zu verweisen, greift zu kurz und trägt kaum zur Lösung gegenwärtiger Krisen und Probleme bei.

Die Bundesrepublik stand in den 1960er und den 1970er Jahren – Stichwort Terror der RAF – unter schwerem Krisendruck. Letztlich ging sie aus den Erfahrungen gestärkt hervor. Hilft uns das heute?

Conze: Der Blick zurück im Sinn einer Selbstvergewisserung ist wichtig. In den 60er Jahren erlebte die Republik massive politische und gesellschaftliche Konflikte, denken wir an die Studentenproteste und die außerparlamentarische Opposition dieser Jahre. Das gilt auch für die 70er Jahre mit Blick auf den Terror, aber auch auf das Ende des Wachstums, das sich mit der Ölkrise von 1973 ankündigte. Es ist gut, sich bewusst zu machen, dass man diese Herausforderungen bestanden hat. Aber die Gesellschaft der Gegenwart ist heute mit ganz neuen Problemen konfrontiert, und die 60er und 70er Jahre liefern keine Patentrezepte zur Lösung der gegenwärtigen Krisen. Die Demokratie selbst muss weiterentwickelt werden. Sie ist nichts Statisches, sondern sie entwickelt und verändert sich auch angesichts der immer neuen Herausforderungen, denen sie gegenübersteht.

"Der Feind steht rechts!" hat der damalige Reichskanzler Joseph Wirth nach der Ermordung von Außenminister Walther Rathenau 1922 gesagt. Stehen wir heute wieder an so einem Punkt?

Conze: Berlin ist nicht Weimar, könnte man sagen. Die Weimarer Republik kämpfte mit ganz anderen Problemen: die nicht akzeptierte und nicht verarbeitete Kriegsniederlage, der Autoritarismus des Kaiserreichs, radikale Demokratiefeindschaft von rechts und links, bürgerkriegsähnliche Zustände. Davon sind wir heute weit entfernt. Das soll den heutigen Rechtspopulismus mit seinen fließenden Übergängen zum Rechtsradikalismus jedoch nicht verharmlosen. Dieser reagiert auf weitverbreitete Ängste und Bedrohungsszenarien mit Nationalismus. Er fordert einen geschlossenen Nationalstaat, der angeblich neue Sicherheit verspricht, was in der globalisierten Welt freilich illusorisch ist. Die Aufgabe der Demokratie ist, zunächst die Ängste der Menschen ernst zu nehmen und darauf zu reagieren. Nur so kann man dem Rechtspopulismus das Wasser abgraben. Darüber hinaus muss sich die Demokratie, Staat und Zivilgesellschaft, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ihre Feinde wehren. 

Deutschland ist nach 1990 ein normaler Staat geworden. Aber die Vergangenheitshypothek ist noch immer da. Wie vermitteln wir angesichts der Zuwanderung von Hunderttausenden den Stellenwert der Erinnerung an den Holocaust?

Conze: Auch das ist ein zentrale Herausforderung. Die Ära der überlebenden Zeitzeugen ist so gut wie beendet, und das erfordert neue Formen der Erinnerung und Vergegenwärtigung der Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust. Diese Aufarbeitung ist Teil der politischen Kultur dieses Landes und sie verbindet sich auch mit der Gestaltung der Außen- und Verteidigungspolitik und dem globalen politischen Auftreten Deutschlands. Das alles lässt sich nicht ohne den historischen Hintergrund betrachten. Zusätzlich gewinnen diese Fragen auch in einer Migrationsgesellschaft an Bedeutung – und zwar als Themen, durch die sich die Bundesrepublik der Gegenwart als plurale und diverse Gesellschaft definiert und über sich selbst verständigt.

In der kritischen Selbstreflexion sind die Deutschen sehr gut. Wo sehen Sie die Fähigkeiten, die uns optimistisch in die Zukunft schauen lassen?

Conze: Die Deutschen haben es nach 1945 geschafft, ein freiheitliches demokratisches Staatswesen, verbunden mit einer sozial organisierten Marktwirtschaft, aufzubauen. Es ist gelungen, auch dank günstiger Rahmenbedingungen, dieses Staatswesen aus sich selbst heraus zu stabilisieren. Das kann einem Selbstvertrauen geben und mit Zuversicht nach vorne schauen lassen. Dennoch gibt es keine Garantie, dass unsere Demokratie so erhalten bleibt, denn sie ist bedroht. Daher muss sie immer wieder neu verteidigt werden.

Zur Person: Eckart Conze, 59, ist einer der renommiertesten Historiker Deutschlands. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Sein aktuelles Buch: "Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung 1871 und ihr schwieriges Erbe", dtv-Hardcover, 22 Euro.

 
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