Herr Radtke, die CDU wird auf ihrem Parteitag ein neues Grundsatzprogramm beschließen. Sie gehören dem Arbeitnehmerflügel der Partei an. Sind Sie zufrieden mit dem neuen Kurs?
Dennis Radtke: Die CDU muss sich mit einem konkreten Angebot viel stärker um die arbeitende Bevölkerung gerade auch bei den unteren Einkommen kümmern. Es gibt unter den demokratischen Parteien inzwischen eine echte Repräsentationslücke bei den Industriearbeitern und bei den Leuten mit kleinen und mittleren Einkommen. Die SPD ist zu einer Bürgergeldpartei geworden und hat mit ihrer Politik diese Wählerschaft längst verloren, zum Teil an die AfD. Die Antwort auf die kleine Anfrage der Linkspartei offenbarte dieser Tage: 8,5 Millionen Menschen haben einen Stundenlohn von weniger als 14 Euro und gehören dem Niedriglohnsektor an. Das ist eine gewaltige, traurige Zahl. Ich frage mich: Warum überlassen wir diese Themen der Linkspartei? Wenn Menschen von ihrer Hände Arbeit nicht in Würde leben können, ist dies ein zutiefst christdemokratisches Thema und kein linkes. Das geht an unsere Grundüberzeugungen – wir können nicht von Freiheit und Selbstbestimmung reden, wenn Millionen Menschen von ihrem Lohn nicht leben können. Dazu kommt: Wenn wir bei Wahlen mehr als 30 Prozent erreichen wollen, brauchen wir ein überzeugendes Angebot und müssen zeigen, dass die CDU auch die Partei der kleinen Leute ist.
Ihre Forderung in allen Ehren, aber anders als zur Zeit Angela Merkels fremdeln viele in Ihrer Partei heute schon mit dem Thema Mindestlohn ...
Radtke: Die Mindestlohnkommission ist gescheitert, da wird der DGB nicht mehr mitmachen. Das Thema Mindestlohn klingt nicht sexy für die Union, aber wir können nicht wollen, dass die Mindestlohnhöhe künftig jeden Bundestagswahlkampf dominiert. Die Union sollte einen neuen Modus für die Anpassung des Mindestlohns vorschlagen, etwa nach Vorbild der europäischen Ebene. Die EU-Mindestlohn-Richtlinie sieht vor: Der Mindestlohn liegt bei 60 Prozent des Medianeinkommens. Dann wäre der Mindestlohn endlich entpolitisiert und eine Aufgabe für das Statistische Bundesamt.
Statt darüber zu reden, debattiert die CDU, wie sie Bürgergeldempfänger sanktionieren will, die Arbeitsangebote ablehnen.
Radtke: Wer das Land führen will, muss Antworten geben, was wir mit diesen 8,5 Millionen Menschen machen. Dazu kommen die 20 Prozent der Aufstocker beim Bürgergeld. All das spielt beim Parteitag und den aktuellen Debatten leider keine Rolle. Auch unser Papier zum Bürgergeld sagt hierzu nichts. Totalverweigerer und Sanktionen sind in der Partei und weiten Teilen der Bevölkerung unstrittig, aber wo sind die Perspektiven für die, die sich anstrengen und trotzdem kaum über die Runden kommen? Eine Partei, die das C im Namen führt, muss der Anwalt dieser Menschen sein. Das soziale Profil, die Fragen der kleinen und mittleren Einkommen, ist in der CDU strukturell seit mehr als 20 Jahren unterbelichtet. Da müssen die Antennen dringend neu justiert werden.
Parteichef Friedrich Merz legt den Schwerpunkt darauf, das wirtschaftspolitische Profil zu schärfen. Angesichts der wirtschaftlichen Schwäche Deutschlands ist das nur nachvollziehbar – oder?
Radtke: Ich würde mir vom Parteitag eine klare Botschaft wünschen: Wir legen bis zur Bundestagswahl ein Konzept vor, wie wir kleinere und mittlere Einkommen entlasten – beispielsweise über eine negative Einkommensteuer oder Freibeträge in der Sozialversicherung. Natürlich kann man über Fehlentwicklungen im Bürgergeld diskutieren. Doch die Bäckereifachverkäuferin in Wattenscheid hat nicht einen Euro mehr in der Tasche, wenn ich den Bürgergeldempfängern etwas wegnehme. Die Debatte über die steuerliche Entlastung bei Überstunden ist schön und gut und hat meine Sympathie. Aber wenn bei 1,3 Milliarden Überstunden im vergangenen Jahr 800 Millionen überhaupt nicht bezahlt werden – dann bringt diese Steuerbefreiung für sehr viele Menschen leider nichts.
Wenn die SPD nicht mehr die Partei der Arbeiter ist – wie soll die CDU das werden?
Radtke: Die CDU braucht klare Botschaften für Industriearbeiter: Wir machen als Einzige den Rücken für euch gerade, etwa gegen zu viel Regulierung beim Klimaschutz. Aber bei uns klingt das zu oft, als würden wir Textbausteine der Industrie- und Handelskammer oder des BDI verwenden und nicht nach einer Botschaft, die ein Stahlarbeiter in Duisburg versteht. Die wandern gerade direkt von der SPD zur AfD oder Sahra Wagenknecht. Wie wollen wir diese Leute im demokratischen Spektrum halten und für uns gewinnen? Darum geht es.