Mohammed Jaber El Kasseih hat es einfach nicht geschafft. Am frühen Morgen ist der Lehrer zum Meer aufgebrochen. Die Amerikaner wollten an diesem Tag im März gemeinsam mit der jordanischen Luftwaffe 38.000 Pakete mit Hilfsgütern über dem Strand des Gazastreifens abwerfen. Doch als El Kasseih endlich ankommt, sieht er eine riesige Menschenmenge, die sich bereits in den Sanddünen versammelt hat. Videos zeigen, wie die Männer in Richtung Brandung stürmen, als die Fallschirme mit den Paketen auf dem Sand und in den Wellen landen. Die einen prügeln sich mit Stöcken um die Hilfsgüter. Die anderen, die leer ausgehen, schreien sich ihre Verzweiflung aus dem Leib. „Ich habe gar nichts bekommen, hier waren so viele Menschen“, erzählt der 35-Jährige in einer WhatsApp-Nachricht. Er kommt mit leeren Händen zurück zu seiner Familie, die in einer zur Notunterkunft umfunktionierten Schule in Beit Lahia im Norden des Gazastreifens auf ihn gewartet hat.
Mohammed Jaber El Kasseih ist einer von Hunderttausenden. Die Mahnungen der internationalen Partner Israels werden angesichts der menschlichen Not immer eindringlicher. Hilfsorganisationen setzen regelrechte Panikmeldungen ab, finden kaum noch Worte, um die schrecklichen Zustände im Gazastreifen zu beschreiben. Sich selbst ein Bild von der humanitären Lage zu machen ist schwierig: Israel und Ägypten verwehren ausländischen Journalisten seit Kriegsbeginn die Einreise in den Gazastreifen. Medien können nur mithilfe lokaler Mitarbeiter über die Lage in Gaza berichten. Selbst internationale Helfer sind nur in Ausnahmen im Gazastreifen aktiv. Sie beschränken ihr Einsatzgebiet auf den äußersten Süden Gazas in der Nähe der Grenze zu Ägypten. Die Berliner Hilfsorganisation Cadus gehört zu den wenigen ausländischen Organisationen, die dort, in Rafah, arbeiten. Der völlig zerstörte Norden des Gazastreifens gilt als besonders schwer erreichbar. Die Straßen sind von Trümmern blockiert. Es gibt kaum Strom, seit die israelische Armee den Abschnitt im Kampf gegen die Terrororganisation Hamas dem Erdboden gleich gemacht hat.
Im Gazastreifen hat sich eine Hungersnot ausgebreitet
Den Menschen, die hier noch ausharren, bleibt nur das unzuverlässige Internet, um mithilfe von Messenger-Diensten die Welt über ihre Not zu informieren. Ihre Berichte können nicht verifiziert werden. Doch die Ereignisse der vergangenen Wochen fügen sich inzwischen wie ein Mosaik zu einem Bild, das die Vereinten Nationen längst zeichnen: Eine echte Hungersnot breitet sich in Gaza aus. Das Welternährungsprogramm (WFP) der UN verortet 600.000 Menschen in Gaza in der schlimmsten Kategorie von Hunger. Ihr Leben sei akut in Gefahr. Patienten in Krankenhäusern und Menschen auf der Straße bettelten um ein Glas Wasser oder ein Stück Brot, berichtete die Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Immer wieder spielen sich regelrechte Dramen ab: Als am 1. März ein UN-Konvoi den Norden Gazas erreicht, endet die Hilfslieferung in einem Blutvergießen. Mehr als 100 Menschen sterben in einer Massenpanik im Kampf um die Lebensmittel. Israelische Soldaten sollen auch Schüsse abgegeben haben, räumte die Armee ein. Die USA entschieden sich als Reaktion auf die Katastrophe, eine Luftbrücke zur Versorgung Gazas einzurichten. An diesem Dienstag lief zudem das Schiff „Open Arms“ der gleichnamigen Hilfsorganisation aus dem zyprischen Hafen Larnaka aus. Der umgebaute Schlepper zieht eine Plattform, auf die Hilfsgüter geladen worden sind: 200 Tonnen Trinkwasser, Medikamente und Lebensmittel. Es ist wie so vieles ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Fahrt könnte bis zu 60 Stunden dauern, da das Schiff langsam fährt. Die Route ist nicht ungefährlich: Im östlichen Mittelmeer wehen oft starke Winde, es gibt starke Strömungen und keine anderen Inseln, die im Falle eines Sturms Schutz bieten könnten. Wo und wie das Schiff nach Ankunft in den Gewässern vor Gaza seine Fracht löschen soll, ist ohnehin unklar. Ein echter Ersatz für den Landweg ist der Seetransport nicht.
Viele Lkw-Lieferungen werden von Demonstranten aufgehalten
Also wird an den Grenzübergängen weiterhin jeder Lkw, jede Lieferung gefilzt, jede Fracht auf Waffen und militärisch nutzbare Güter überprüft. Die Sorge, dass sich zwischen Mehl und Reis Munition, vielleicht sogar Raketen befinden könnten, mit der der Kampf gegen Israel fortgesetzt wird, sitzt tief und ist keineswegs unbegründet. Allerdings werden nach israelischen Angaben nur 1,5 Prozent der Hilfslieferungen nicht zugelassen. „Natürlich will die israelische Regierung verhindern, dass die Hamas sich wieder aufrüstet, deshalb kontrollieren sie die Lieferungen, die in den Gazastreifen gelangen, ganz genau“, sagt Peter Lintl, Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Die eigentlichen Probleme liegen an anderer Stelle.“ Nicht nur die politische Rechte demonstriert gegen die Hilfslieferungen, auch Angehörige von israelischen Geiseln fragen: Warum bekommen die Palästinenser Brot, während unsere Liebsten hungern müssen? Immer wieder komme es zu Verzögerungen der ohnehin wenigen Lkw-Konvois, zudem fehle es im Gazastreifen durch die andauernden und heftigen Kämpfe inzwischen schlicht an Logistik. Nicht nur, dass viele Straßen zerstört sind, es mangele auch an staatlichen Akteuren wie etwa Polizisten, die sich um die Verteilung der Hilfsgüter kümmern und so eine gewisse Ordnung ins Kriegschaos und in die sich ausbreitende Anarchie bringen. „Israel hat jegliche vorhandene Ordnung im Gazastreifen zerschlagen“, sagt Lintl. Das Vakuum werde inzwischen immer mehr zur echten Gefahr. „Irgendwann werden die Israelis gezwungen sein, selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Sie wollten die Verantwortung nicht – sie haben sie jetzt aber.“
Genau das hat die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober ausgeschlossen – Ziel ist die Zerschlagung der Hamas, ausdrücklich nicht die staatliche Verantwortung für den Gazastreifen und die dort lebenden Menschen. Eine Vorstellung, die sich nun als Bumerang entpuppen könnte. Experten mahnen seit Monaten: Es braucht ein Konzept für den Gazastreifen, das über den Krieg und den bloßen Militäreinsatz hinausgeht. „Das Leiden dort wird immer größer, aber Israel fehlt es an einem Plan und genau daraus resultiert auch das Chaos“, sagt auch Lintl. Der wird indes selbst von den treuesten Partnern – allen voran den USA – immer dringlicher eingefordert: „Humanitäre Hilfe darf nicht zweitrangig sein oder als Verhandlungsmasse dienen. Der Schutz und die Rettung unschuldiger Menschen muss Vorrang haben.“ Präsident Joe Biden packt seine Kritik längst nicht mehr in diplomatische Floskeln. „Die USA haben sowohl die Geduld als auch das Vertrauen in die Israelis verloren“, sagt Lintl. „Es gibt durchaus Verständnis für den Kampf gegen die Hamas, aber eben nicht dafür, dass Israel sehr wenige Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung vornimmt und nicht wirklich versucht, das Leben der Zivilisten zu verbessern.“ In ungewöhnlicher Deutlichkeit haben selbst die US-Geheimdienste die Führungsfähigkeiten Netanjahus und seiner Koalitionspartner in Zweifel gezogen. In der jährlichen Analyse der Geheimdienste heißt es: „Wir erwarten große Proteste, in denen sein Rücktritt und eine Neuwahl verlangt werden.“
Auch der Lehrer El Kasseih schildert den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in Gaza. Von der Polizei oder Verwaltung sei nichts mehr auf den Straßen zu sehen. Stattdessen setze sich das Recht des Stärkeren gegenüber jenen durch, die der Hunger bereits geschwächt habe. Die Luftbrücke der Amerikaner und Jordanier könne deshalb wenig ausrichten. „Das ist unmöglich. Der Bedarf ist so hoch, dass er durch Abwürfe aus der Luft nicht zu decken ist. Wir brauchen Lieferungen über den Land- oder Seeweg“, schreibt er. Hinzu kommt: Die Abwürfe sind nicht ohne Risiko. Eine Hilfsladung mit defektem Fallschirm erschlug am 8. März mehrere Menschen.
Notunterkünfte im Gazastreifen sind überfüllt
Die Verzweiflung der Zivilisten wächst mit jedem Tag. Die Notunterkunft, in der El Kasseih Unterschlupf gefunden hat, sei mit 4000 Schutzsuchenden völlig überfüllt. Seine ganze Familie lebe dort, darunter seien zwölf Kinder. „Unsere Kinder sind sehr schwach geworden, sie sind nur noch Haut und Knochen“, berichtet El Kasseih. Kinder anderer Familien in der Schule seien bereits an Unterernährung gestorben. Auch den Erwachsenen sei die Unterernährung anzusehen. „Jeder von uns hat mindestens die Hälfte an Gewicht verloren“, sagt er.
Seine Tage verbringe er mit der Suche nach Nahrung. Zuerst habe seine Familie Tierfutter gegessen und „alle Arten von Tieren“. Inzwischen sammle er Pflanzen. „Das Einzige, was wir jeden Tag essen, ist Hibiskus. Aber selbst den findet man kaum noch. Er wächst nur in der Regenzeit und die ist bald zu Ende“, schreibt er. Die Suche nach Nahrung koste Kraft, die ohne regelmäßige Mahlzeiten schwinde. „Es ist so hart, irgendetwas aufzutreiben. Ich hoffe, dass der Krieg bald endet, weil wir durch den Mangel an Essen so schwach und kraftlos geworden sind“, erklärt er. Einige Geschäfte hätten noch geöffnet. Dort gebe es aber nur noch Süßigkeiten und Snacks zu horrenden Preisen zu kaufen. „Es gibt kein Gemüse, kein Fleisch, kein Fisch“, schreibt er.
Kritik kommt inzwischen sogar aus Deutschland
In Deutschland tut man sich traditionell schwer mit Kritik an Israel, zu fragil sind die Beziehungen. Doch inzwischen sind selbst aus Berlin Stimmen zu vernehmen, die Israel zur Mäßigung aufrufen. Die Bundeswehr wird sich zudem an der Hilfe für Gaza aktiv beteiligen: Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius gab am Mittwochvormittag grünes Licht für den Abwurf von dringend benötigten Hilfsgütern durch die Luftwaffe. Es sollen in Frankreich stationierte C130-Transportflugzeuge der Bundeswehr eingesetzt werden. Gleichwohl ist der Einfluss der Bundesregierung auf die israelische Politik überschaubar. Deutlich stärker Gehör verschaffen könnte sich, glaubt Peter Lintl, die EU – doch die finde nicht zu einer gemeinsamen Position. „Die EU ist bei diesem Thema schlicht nicht sprechfähig, es gibt noch nicht einmal einen Minimalkonsens."
Ob Benjamin Netanjahu sich von Mahnungen, egal von welcher Seite, beeindrucken lässt, ist ohnehin alles andere als sicher. Für Israel seien die Hilfslieferungen auch Teil der Verhandlungsmasse mit der Hamas um die Geiselbefreiung und die Feuerpause. Zur Wahrheit gehört gleichwohl auch: Eine Einigung über eine Feuerpause wird derzeit vor allem von der Hamas blockiert. „Die Hamas profitiert ganz offensichtlich von dem Druck, der auf Israel lastet“, sagt Lintl. Das habe sich Israel zum Teil selbst zuzuschreiben, habe aber zur Folge, dass die Hamas den Preis für sich selbst hochtreiben kann.
In den kommenden Tagen wird sich der Blick vor allem auf Rafah richten, in dem Ort an der südlichen Grenze in Richtung Ägypten leben inzwischen Zweidrittel der Menschen aus dem Gazastreifen. 1,5 Millionen Palästinenser suchen hier auf engstem Raum Schutz vor den Kämpfen in anderen Gebieten des abgeriegelten Küstengebiets. Bisher hat die israelische Armee die Stadt nicht mit einer Bodenoffensive überzogen, die Infrastruktur ist zumindest noch in großen Teilen vorhanden. Für ihn stelle dies eine „rote Linie“ dar, hatte Biden gesagt. Er werde nicht zulassen, dass als Konsequenz aus dem Vorgehen gegen die Hamas weitere 30.000 Palästinenser sterben. „Doch bisher hat Israel noch keinen Plan vorgelegt, wie Rafah evakuiert werden könnte“, sagt Lintl.
Für Mohammed Jaber El Kasseih werden wohl auch die kommenden Wochen nur bedingt Hoffnung bereithalten. Er träume inzwischen von Mehl und anderen Nahrungsmitteln, die er nicht auftreiben kann, während ihn der Hunger plage. „Wir essen den ganzen Tag nichts und am Abend fühlt sich das wie Sterben an“, schreibt er.