
Man kennt das ja schon. Europawahlkämpfe können eine zähe Angelegenheit sein. Brüssel ist weit weg, die Entscheidungswege sind schwer verständlich, der Wahlkampf daher zumeist eine Abstimmung über nationale Politik. In Deutschland also vor allem über den Zustand der Ampel.
Versuche, etwas Schwung und Begeisterung in die Sache zu bekommen, sind in den vergangenen Jahren stets gescheitert. Sicher, vor fünf Jahren, da sah es eine Zeit lang so aus, als dürfe man tatsächlich darüber abstimmen, ob Manfred Weber, der Spitzenkandidat der CSU aus Niederbayern, Kommissionschef werden solle. Doch dann, bald nach der Wahl, ließ Frankreichs Präsident Macron die Illusion mit feinen Nadelstichen zerplatzen wie einen zu hoch aufgestiegenen Luftballon und installierte Ursula von der Leyen, die auf keinem Wahlzettel gestanden hatte.
Von der Leyen könnte ein ähnliches Schicksal erleiden wie Manfred Weber
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass von der Leyen bei dieser Wahl ein ähnliches Schicksal erleiden könnte wie einst Weber. Auf dem Wahlzettel steht die amtierende Kommissionschefin auch heute nirgends, da sie sich nicht um einen Sitz im Europaparlament bewirbt. Auch als Zugpferd ist die CDU-Frau im Wahlkampf nirgends zu sehen. Die Bewerberin aus Deutschland hatte so gut wie keinen Auftritt im deutschen Fernsehen. So wenig Spitzenkandidat war nie.
Auf der anderen Seite scheint das fast folgerichtig, denn das Ergebnis der Wahl wird auch dieses Mal nur sehr bedingt Aufschluss darüber geben, ob von der Leyen ihr Amt behalten darf oder nicht. Die große Hürde ist dabei zunächst nicht einmal die (schwierige) Frage, ob es von der Leyen gelingt, im Europaparlament eine Mehrheit zu basteln. Entscheidend sind erst mal die Staats- und Regierungschefs.
Scholz lehnt Kooperation mit Postfaschistin Meloni ab
Oberster Zocker ist, wen wundert's, erneut Emmanuel Macron, also ausgerechnet der Mann, dem von der Leyen ihr Amt verdankt. Frankreichs Präsident ist wild entschlossen, das Maximale für eine erneute Unterstützung der Deutschen herauszupressen, auch daher streuen seine Leute immer wieder den Namen des ehemaligen EZB-Chefs Mario Draghi als mögliche Alternative. Macron will mehr gemeinsame europäische Schulden nach Vorbild des Coronakrisenfonds, um in die Verteidigungsfähigkeit des Kontinents zu investieren und in eine klimaneutrale Zukunft. Zudem dringt er auf Schutzzölle gegen chinesische E-Autos. Zu alledem ist der Posten des Kommissionschefs der Schlüssel.
So viel Aktivismus ist auch Kanzler Scholz nicht verborgen geblieben. Der SPD-Mann will ganz im Sinne der deutschen Premium-Autohersteller von Schutzzöllen nichts wissen, und auch Macrons militärischer Einschlag in der EU-Politik ist Scholz eher fremd. Um zu verhindern, dass eine um ihren Job ringende von der Leyen Macron alle Wünsche von den Augen abliest, nennt nun auch er öffentlich Bedingungen. Eine Mehrheit mit der Postfaschistin Giorgia Meloni aus Italien, nein, darauf dürfe sich von der Leyen im Europaparlament nicht stützen, sagt Scholz. Wie Macron hat auch er ein Druckmittel: ohne die explizite Zustimmung des deutschen Kanzlers werden die anderen Staats- und Regierungschefs eine Deutsche kaum im Amt bestätigen.
Für von der Leyen wird es nun darauf ankommen, den Wünschen der beiden EU-Alphatiere zu entsprechen – ohne sich komplett von der Linie der EVP, zu der auch CDU und CSU gehören, zu entfernen. Daher lässt sie in der Financial Times, einem Blatt, das im Élysée-Palast fleißig studiert wird, im Konrad-Adenauer-Haus aber eher nicht, Sympathien für neue gemeinsame Schulden erkennen. Motto: Wird bei der CDU schon keiner mitkriegen.
Das Spitzenkandidatenprinzip, einst von Martin Schulz und anderen als höchste Segnung europäischer Demokratie ersonnen, ist mausetot. Ironischerweise gilt das auch dann, wenn von der Leyen im Amt bleibt.