Es ist keine elf Jahre her, dass Millionen Menschen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz für die Annäherung ihres Landes an die EU demonstrierten. Die Euromaidan-Proteste sollten als „Revolution der Würde“ in die Geschichte eingehen. Und zumindest im ersten Schritt kann der Aufstand als Erfolg bezeichnet werden. Denn die Ukraine markierte an diesem Dienstag einen weiteren Meilenstein in Richtung EU-Mitgliedschaft. In Luxemburg begannen offiziell die Gespräche für die nun anstehenden Beitrittsverhandlungen zwischen Brüssel und Kiew.
Obwohl der Prozess viele Jahre dauern wird und der Ausgang ungewiss ist, steckt in dem Moment viel Symbolträchtigkeit für das von Russland angegriffene Land. Die EU wollte ein starkes Signal senden. Und das kam an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem „historischen Ereignis“. Es sei der Tag, auf den die Ukraine seit Jahrzehnten hingearbeitet habe – „jetzt machen wir ihn zur Realität“.
Erstmals Beitrittsgespräche mit einem Land im Krieg
Es ist das erste Mal, dass die Gemeinschaft mit einem Land Beitrittsgespräche aufnimmt, in dem ein Krieg tobt. Darüber hinaus wird die EU auch Gespräche mit dem benachbarten Moldau beginnen, einer ehemaligen Sowjetrepublik, die Wochen nach Russlands Invasion in der Ukraine im Februar 2022 einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt hat und politisch stark unter Einflussnahme Moskaus steht.
„Die Menschen in der Ukraine und der Republik Moldau haben ihr unerschütterliches Engagement und ihre Entschlossenheit unter Beweis gestellt, Teil dieses Projekts zu sein“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Dienstag in einer Videobotschaft kurz vor Auftakt der formellen Gespräche. Selbst in einer Zeit des Krieges und der Unruhen hätten sie umfassende Reformen eingeleitet. „In Kiew schlägt das Herz Europas“, befand auch der CDU-Europaabgeordnete Michael Gahler. Die EU sei „der verheißungsvolle Fluchtort aus dem düsteren Kriegsalltag“. Beide Länder hätten sich „unwiderruflich für einen europäischen Weg entschieden“, so Gahler. Von der Leyen betonte aber auch, dass dieser „anstrengend und anspruchsvoll“ sein werde.
Ukraine und Moldau sollen auf Pflichten vorbereitet werden
Die Beitrittsverhandlungen dienten dazu, die Kandidaten auf die mit der Mitgliedschaft verbundenen Pflichten vorzubereiten. „Aus diesem Grund gibt es keine Abkürzungen“, so von der Leyen. Regelmäßig melden sich Skeptiker zu Wort und pochen darauf, dass die strengen Aufnahmeregeln keineswegs für eine Art Kriegsbonus zugunsten der Ukraine aufgeweicht werden dürften.
So wurde in Brüssel zwar mit Erstaunen beobachtet, wie das Parlament in Kiew ein Reformgesetz nach dem anderen verabschiedete, etwa gegen Korruption und Geldwäsche, gegen die Macht der Oligarchen und für den Schutz von Minderheiten. Die Fragen nach der Umsetzung aber blieben: Stehen die Änderungen lediglich auf dem Papier oder werden sie auch in letzter Konsequenz realisiert? Und wie sieht die Kontrolle der EU-Kommission aus? Der CSU-Europaparlamentarier Markus Ferber warnte, die EU müsse aufpassen, „nicht zu früh zu viele Hoffnungen“ in Kiew und Chişinău zu wecken. „Was wir verhindern müssen, sind langfristige Enttäuschungen aufgrund zu hoher Anfangserwartungen.“
Während bei vielen EU-Ländern die militärische Unterstützung nach dem Einmarsch Russlands nur zögerlich anlief und die Ukraine auf die USA angewiesen war, die den Löwenanteil übernahmen, wollte die Gemeinschaft immerhin politisch ein Zeichen setzen und Solidarität zeigen. Vorneweg von der Leyen hatte sich stets dafür eingesetzt, den sich verteidigenden Ukrainern Perspektiven zu geben.
Welche Rolle Ungarns Premier Orbán spielte
In Rekordzeit wurden die beiden Länder zu Kandidaten ernannt. Ab jetzt dürfte das Tempo deutlich gedrosselt werden. Am Dienstag legte die EU einen „Verhandlungsrahmen" für Reformen und Rechtsakte vor, eine Art Fahrplan für die Mammutaufgabe, die aus 35 Kapiteln besteht. Schlussendlich geht es darum, europäische Rechtsvorschriften und Prinzipien, gesammelt auf mehr als 100.000 Textseiten, in nationales Recht zu übertragen.
Insbesondere der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán äußerte Kritik an dem Schritt, legte aber auch kein Veto ein. Er hatte sich wiederholt gegen den Beitritt der Ukraine in die EU ausgesprochen und an der Abstimmung unter den EU-Staats- und Regierungschefs beim Gipfel im Dezember nicht teilgenommen.
Indirekt spielte auch Budapest eine Rolle dabei, dass es plötzlich so schnell ging mit dem Start der Gespräche. Ab Juli übernimmt für ein halbes Jahr Ungarn die Ratspräsidentschaft. Damit schien es ausgeschlossen, dass das Thema auf der Agenda der Mitgliedstaaten landen würde.