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Tiraspol
Die kleine Republik Moldau und ihre große Angst vor Russland
Gehört Moldau in die EU? Bald entscheidet Brüssel über die nächsten Schritte im Beitrittsprozess. Doch hier geht es um mehr als das Land im Schatten der Ukraine.
Von der Leyen besucht Moldau.jpeg       -  Von der Leyen besucht Moldau Ursula von der Leyen (l), Präsidentin der Europäischen Kommission, steht neben Maia Sandu, Präsidentin von Moldau bei ihrem Besuch in Chisinau. +++ dpa-Bildfunk +++AGENTURBILD DPA picture-alliance.com picture alliance dpa-archiv dpa-langzeitarchiv
Foto: Aurel Obreja | Von der Leyen besucht Moldau Ursula von der Leyen (l), Präsidentin der Europäischen Kommission, steht neben Maia Sandu, Präsidentin von Moldau bei ihrem Besuch in Chisinau.
Katrin Pribyl
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:09 Uhr

Olga hat den russischen Panzern einen lächelnden Mund unter das Kanonenrohr gestickt. Ein gehäkeltes Kriegsgerät fürs Kind zwischen all den Puppen und Stofftieren, die sie an ihrem kleinen Stand zum Kauf anbietet. Die 60-Jährige mit den kurzen, weiß-blond gefärbten Haaren und dem Pailletten-T-Shirt reagiert verlegen, wenn Kunden sie auf die Plüsch-Panzer oder den handgearbeiteten Sowjet-Soldaten mit dem roten Stern auf der Mütze ansprechen, der mit seiner Uniform aus der Kuschelsammlung herausragt. Gut fürs Geschäft sei das, aber über Politik reden, nein, das will sie nicht. Nur der Krieg, ja, schlimme Sache. Dass der plötzlich so nahekommt, das mache ihr doch Angst. In zwei Autostunden wäre Olga in der ukrainischen Hafenstadt Odessa.

Die Hobby-Häklerin bessert mit dem Verkauf der Nadelarbeiten ihre niedrige Rente auf, die sie aus Russland überwiesen bekommt – wie fast jeden Samstagmittag auf dem Markt im Zentrum Tiraspols, der selbsternannten Hauptstadt des selbsternannten Landes Transnistrien. Es herrscht Volksfeststimmung bei Sonnenschein auf dem Suworow-Platz. Doch während hier Familien durch den mit Blumen geschmückten Park flanieren, wehrt sich nur wenige Kilometer entfernt die Ukraine seit mehr als eineinhalb Jahren gegen die russische Invasion. Die Menschen in Transnistrien stehen irgendwo dazwischen. Es ist das Land, das es eigentlich nicht gibt und das doch irgendwie existiert mit eigener Flagge, Hauptstadt, Hymne, Währung, Armee – und Grenze. Wer die passieren will, muss in einem der grauen Schalter darauf warten, von einem Uniformierten einen Stempel auf ein Stück Papier gedrückt zu bekommen. Den Pass darf er nicht stempeln, man verlässt ja nicht Moldau, bevor man nach Transnistrien einreist. Das Gebiet gehört völkerrechtlich zur Republik.

Putin hält Transnistrien als eine Art Filiale fernab des Kremls

Die rund 375.000 Bewohner betrachten sich trotzdem als unabhängig, auch wenn das sonst kein Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen tut. Sie stehen unter dem Einfluss Russlands, inklusive Desinformationskampagnen aus Moskau im Fernsehen und Propaganda über die sozialen Medien. Man könnte auch sagen, dass Putin Transnistrien als eine Art Filiale fernab des Kremls hält, mit der er Moldau zu destabilisieren versucht. Das Separatistengebiet markiert einen der größten Stolpersteine für Moldaus Weg in die EU, jener Republik, die auf der Landkarte eingeklemmt zwischen Rumänien und der Ukraine in die Gemeinschaft drängt. Seit Juni 2022 ist der Staat Beitrittskandidat. Wie die Regierung in Kiew hofft auch jene in Chisinau auf den Startschuss der Aufnahmegespräche bis Ende dieses Jahres.

Das kleine Moldau rückt so im Windschatten der Ukraine ins Zentrum großer europäischer Fragen: Wie ernst ist es der EU mit ihrem Erweiterungsangebot? Und, kann so eine Erweiterung ernsthaft gelingen, solange Moskau nichts unversucht lässt, um die junge Demokratie zu destabilisieren? In ihren Reden halten die EU-Spitzen die Tür für Moldau genauso weit offen wie für die Ukraine. Neben Worten investieren sie auch Geld, um das Land zu stützen, inzwischen sind es mehrere hundert Millionen Euro. Denn eines darf keinesfalls passieren – dass neben Weißrussland ein zweiter Staat an der EU-Ostgrenze entsteht, der unter Putins Fuchtel steht. 

Prorussische Separatisten beherrschen die abtrünnige Region

Ob das Ziel von Moldaus Präsidentin Maia Sandu, das 2,6-Millionen-Einwohner-Land bis 2030 in die Union zu führen, eine realistische Chance hat, hängt unter anderem an der Bewertung der EU-Kommission, die für Anfang November erwartet wird. Es ist ja nicht so, dass Europa Moldau nicht auch brauchen würde. Im deutschen Bundestag liegt beispielsweise gerade ein Gesetz zur Abstimmung vor, wonach die Republik als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden soll. Was bedeuten würde, dass Asylverfahren für Bewerber aus Moldau verkürzt und Abschiebungen beschleunigt werden könnten.

Zugleich wird die EU bei ihrer Bewertung vor allem solche Fragen stellen: Wie viele Anforderungen erfüllt der ehemalige Sowjetstaat bereits, unter anderem was die Rechtsstaatlichkeit, Justizreformen und eine stärkere Korruptionsbekämpfung betrifft? Welche Seite in der zwischen proeuropäischen und prorussischen Kräften gespaltenen Republik gewinnt die Zerreißprobe? Im Mai kamen etwa 80.000 Menschen zu einer Kundgebung ins Zentrum der Hauptstadt und demonstrierten für einen Beitritt zur Europäischen Union. Jüngsten Umfragen zufolge wollen rund 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Mitglied der Gemeinschaft werden. Die Zustimmung zu Russland ist dagegen von fast 40 auf 30 Prozent gesunken. Einerseits. Andererseits hängt Transnistrien wie ein Damoklesschwert über dem Traum der EU-Befürworter.

Prorussische Separatisten beherrschen die abtrünnige Region, seit bei einem blutigen Bürgerkrieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fast 1000 Menschen starben. 1992 rief Transnistrien einen eigenen Staat aus. Eine sogenannte „Friedenstruppe“ ist seitdem in Transnistrien stationiert, ein Kontingent von mehr als 1500 Soldaten, die ein altes Waffendepot aus dem Zweiten Weltkrieg bewachen. Bei den Männern handelt es sich zumeist um Einheimische mit russischen Pässen und geringer Ausbildung. Sie patrouillieren in strategischen Gebieten, unterhalten Kontrollpunkte wie unten am Fluss Dnister, aber bleiben auch auffällig im Hintergrund. „Keiner will Aufmerksamkeit erregen“, sagt Maksim, der sich als Fahrer vorstellt, aber selbst nach dem Abstellen des Autos die ausländischen Besucher nicht aus den Augen lässt. Maksim meint, im Kreis der Soldaten herrsche zu große Angst, im Zuge der nächsten Mobilisierung von Moskau an die Front in der Ukraine geschickt zu werden. Und er? Maksim grinst nur.

Auch wenn die Moldauer Regierung Transnistrien weiterhin als Sicherheitsrisiko betrachtet und rätselhafte Anschläge im Frühjahr vergangenen Jahres für Spannungen sorgten, hätten sich mit dem Angriffskrieg Russlands sowohl die Lage in dem Separatistengebiet als auch die Beziehungen zwischen Chisinau und Tiraspol „fundamental verändert“, sagt Anastasia Pociumban von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Der interne Konflikt rückte überhaupt erst wieder in den Fokus der Bevölkerung auf beiden Seiten des Dnister. „Es gibt mittlerweile die Einsicht, dass der Status quo auf Dauer nicht funktionieren kann“, sagt die moldauische Politikwissenschaftlerin. Wer würde schon nach einem Ende des Krieges akzeptieren, dass in Transnistrien russische Truppen direkt an der Grenze zur Ukraine stationiert sind? Aber wie auch immer eine friedliche Lösung zwischen Moldau und Transnistrien aussehen mag – „der Prozess der Re-Integration muss schrittweise und sensibel passieren, das braucht Zeit“, sagt Pociumban. Zu fragil sei die Situation, zu polarisiert das Klima. 

Transnistrien gleicht einem Themenpark aus der UDSSR

Die Menschen in dem Separatistengebiet als ausgesprochene Nostalgiker zu bezeichnen, dürfte die Untertreibung des Jahrzehnts sein. Die Sehnsucht nach der untergegangenen Sowjetunion belegt schon die Fahne, auf der Hammer und Sichel prangen. Transnistrien gleicht einem Themenpark aus der UDSSR, wo sie eine eigene Währung namens Rubel nutzen und internationale Kreditkarten nicht funktionieren; wo es keine riesigen Ladenketten wie H&M gibt, dafür einige lokale Geschäfte, die weniger zufällig H&A heißen. So ziemlich alles andere ist nach „Sheriff“ benannt, dem Unternehmen des Oligarchen Victor Gușan. Es kontrolliert de facto die gesamte Wirtschaft in dem Gebiet. Dementsprechend ziert der Name Sheriff das Stadion, die Fußballmannschaft, die Supermärkte und Tankstellen, das Casino, den Mobilfunk, die Wohnungsbaugesellschaft.

Skurril wird es, wenn Spaziergänger entlang der Strada 25 Octombrie, der Allee zu Ehren der Oktoberrevolution 1917, erst auf eine Büste des kommunistischen Revolutionärs Lenin stoßen und wenige Meter weiter auf ein Denkmal des bedeutendsten Lyrikers der Ukraine, Taras Schewtschenko, der heute mehr denn je für die Ukrainer als Identifikationsfigur gilt. Außer Konkurrenz steht zu guter Letzt noch Harry Potter in Bronze gegossen auf einem Sockel, inklusive Eule Hedwig. Wie nun der Zauberlehrling aus dem Westen in die Ostblockzeiten passt? „Wir sind besessen von Harry Potter“, sagt die Transnistrierin Julia und lacht laut auf. 

Die 33-Jährige ist freiberufliche Texterin und studiert in Tiraspol Webdesign. Sie würde so was wie das Postergirl abgeben für die EU-Befürworter in dem Land. Ihr russischer Pass ist abgelaufen, doch verlängern will sie ihn nicht. „Wozu?“ Statt auf Moskau setzt sie auf Moldau, auf Wandel und auf Frieden. „Ich wäre glücklich, wenn wir irgendwann EU-Mitglied wären“, sagt die Mutter zweier Kinder und meint mit „Wir“ die Moldauer. Mit ihren Eltern führt sie deshalb seit Jahren hitzige Diskussionen. „Die haben Angst vor Veränderungen und hängen dem Glauben nach, dass früher alles besser war.“ Wer in Transnistrien auf welcher Seite steht, das hängt vor allem vom Alter ab. Julia lobt Tiraspol heute schon als „multikulturelle und multinationale Stadt“ und schickt die Gäste wie zum Beweis in den Supermarkt. Dort stammen die saure Sahne aus der Ukraine, der Joghurt aus Belarus, die Milch aus Moldau, die Mayonnaise aus Russland. 

Noch mag die Region an Russlands Geld- und Gastropf hängen

In Wahrheit ist Tiraspol ein undurchsichtiger Ort. Jede politische Opposition wurde zerschlagen, die meisten, die versucht haben, Veränderungen anzustoßen, sind vom Geheimdienst verhaftet worden. Der nennt sich wie zur Sowjetära, als Transnistrien eine reiche Industrieregion war, KGB. Auf offiziellen Gebäuden weht die russische neben der transnistrischen Flagge. Derweil bröckeln nicht nur die Plattenbauten, auch die Wirtschaft strauchelt, weil und weshalb immer mehr Menschen gehen. Eine Geburtsklinik etwa musste kürzlich schließen, erzählt Julia, weil keine Ärzte mehr zu finden waren. Mediziner und Pfleger flüchten in Scharen nach Moldau. Dort verdienen Krankenpflegerinnen zwei bis drei Mal so viel wie in dem Streifen der Abtrünnigen. 

Noch mag die Region an Russlands Geld- und Gastropf hängen. Doch Moldau arbeitet daran, Verflechtungen aufzulösen. Dabei hilft ein neues Freihandelsabkommen mit den Europäern. Seit Putins Truppen den Nachbarn überfallen haben, näherten sich zudem Transnistrien und Moldau wirtschaftlich an. Denn die Grenze zur Ukraine ist geschlossen, damit sind Lieferrouten gekappt für Nahrungsmittel, Medikamente oder Benzin. Nun wird viel über Moldau nach Transnistrien transportiert, gleichwohl exportieren die Separatisten ihre Güter über Chisinau etwa in die EU. Das gesamte Gas, das Moldau aus Russland bezieht, geht an Transnistrien. Im Gegenzug versorgt Tiraspol die Republik mit Strom. „Die Abhängigkeit Transnistriens von der Regierung in Chisinau war noch nie so groß wie jetzt“, sagt Politologin Anastasia Pociumban. Könnte das auch einen gesellschaftlichen Wandel einläuten?

Früher, da seien Ukrainer regelmäßig zu Besuch gekommen, die Transnistrier wiederum häufig ins Nachbarland gefahren, wo viele Freunde und Familie haben, sagt Ljudmila. Die Seniorin mit dem geblümten Kleid und dem kupferfarben getönten Haar verkauft in einem Kiosk in Tiraspol Zeitschriften und Zigaretten. Auf der Titelseite eines russischen Blatts verspricht der Kreml in Großbuchstaben eine Erhöhung der Renten. Ljudmila zuckt die Schultern. Sie macht sich dieser Tage mehr Gedanken um die Zukunft ihrer zwei Kinder und ihres 26-jährigen Enkels. „Transnistrien ist nicht mehr so friedlich wie früher“, flüstert sie und lässt ihren Blick in Richtung Überwachungskamera wandern. Vorbehaltlos auf der russischen Seite stehen die Leute hier keineswegs. „Ich weiß nicht, wer in diesem Krieg recht hat“, sagt Ljudmila vielmehr. „Aber die ganze Situation ist schrecklich.“

 
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