An den 30. April erinnert sich Andrea Jochner-Weiß als Landrätin von Weilheim-Schongau schweren Herzens. An jenem Sonntag kam das letzte Baby auf der Geburtenstation im Schongauer Krankenhaus auf die Welt, danach musste die letzte Geburtenklinik in dem oberbayerischen Landkreis stillgelegt werden. „Ich war und bin persönlich sehr betroffen und traurig, dass wir diesen Schritt nicht abwenden konnten“, sagt Jochner-Weiß. Zwar kamen vergangenes Jahr noch 523 Kinder in der Klinik auf die Welt, ein Sechstel weniger als im Jahr zuvor. Doch ein Mangel an werdenden Müttern war weniger das Problem.
In Schongau wird um die Zukunft der Kliniken gerungen
„Wesentlicher Auslöser für die Schließung der Geburtsstation ist aus meiner Sicht eher der Fachkräftemangel, der vom demografischen Wandel und vor allem in der Veränderung in der Arbeitswelt beeinflusst ist“, erklärt die Landrätin. „Wegen fehlendem medizinischem Fachpersonal für die Geburtshilfe ist eine sichere und verantwortungsvolle Begleitung und Versorgung von Schwangeren am Krankenhaus Schongau derzeit nicht gewährleistet“, betont die CSU-Politikerin.
Die sich verändernde Bevölkerung, der sogenannte demografische Wandel mit immer mehr älteren und weniger jüngeren Menschen, zeigt sich auch in der Bilderbuchregion südwestlich von Ammersee von Starnberger See immer mehr von unangenehmen Seiten. Seit Langem wird um Gesundheitsversorgung und den Erhalt der beiden Klinikstandorte im Landkreis gerungen. „Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben uns gezeigt, dass es weder finanziell noch personell möglich ist, mehrere Akutkrankenhäuser in unserem Landkreis dauerhaft betreiben zu können“, sagt Jochner-Weiß. „Denn ein maßgeblicher Faktor für junge Mediziner, um sich für Kliniken als Arbeitsplatz zu entscheiden, sind attraktive und vielfältige medizinische Angebote in einem Haus.“
Der Landkreis und der Freistaat hätten deshalb gerne die beiden Krankenhäuser in Schongau und Weilheim zugunsten eines Neubaus zusammengelegt. Doch bei einem Bürgerentscheid stimmten mehr als zwei Drittel gegen das geplante neue Zentralkrankenhaus. Vor wenigen Wochen demonstrierten 3000 Schongauer dagegen, ihr Krankenhaus in ein ambulantes Zentrum umzuwandeln. Der Streit könnte bald an vielen Ecken der Republik ausbrechen.
"Der demografische Wandel für das Gesundheitswesen wie der Klimawandel für die Menschheit“
„Der demografische Wandel ist im Mikrokosmos Gesundheitswesen das, was der Klimawandel für die Menschheit bedeutet“, sagt der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft Gerald Gaß. „Es gibt heute fast doppelt so viele Menschen im Alter von 59 Jahren wie Menschen mit 19 Jahren“, betont er mit Blick auf Deutschlands geburtenstärksten Jahrgang 1964 mit knapp eineinhalb Millionen Menschen.
Für die Krankenhäuser bedeutet die Entwicklung eine mehrfache Herausforderung: Immer mehr Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte gehen bald in den Ruhestand, immer weniger Personal kommt nach, und auf der anderen Seite wird mit der alternden Gesellschaft die Zahl der zu versorgenden Patientinnen und Patienten massiv ansteigen. „Wir können tun und lassen, was wir wollen: Wir werden nie mehr so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wie heute“, warnt Gaß. Deshalb sind sich Bund, Länder und Fachleute einig, dass eine große Krankenhausreform notwendig ist, auch wenn über das Wann und Wie noch heftig gestritten wird.
Ökonom Marcel Fratzscher warnt vor Gefahren für sozialen Frieden
Mit Reformen will die Bundesregierung auch die Zuwanderung von Arbeitskräften nach Deutschland erleichtern, denn der demografische Wandel stellt längst auch die Wirtschaft vor gewaltige Herausforderungen. „Wir haben schon heute mit fast zwei Millionen offener Jobs ein erhebliches Fachkräfteproblem, das primär auf die Demografie und die sinkende Zahl an Menschen im erwerbstätigen Alter zurückgeht“, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. „Dieses Problem wird sich in den kommenden zehn Jahren massiv verschärfen, da knapp fünf Millionen Beschäftigte netto dem Arbeitsmarkt verloren gehen werden“, betont der Ökonom mit Blick auf die Altersstruktur. „Die fehlenden Fachkräfte sind ein existenzielles Problem für zahlreiche Unternehmen und könnten somit zu Verwerfungen innerhalb von Wirtschaft und Gesellschaft beitragen.“
Umso wichtiger sei es, gegenzusteuern. „Der Rückgang der Zahl der Beschäftigten wird unvermeidbar sein, aber er kann durch ein Heben der sogenannten Stillen Reserve im Arbeitsmarkt – vor allem einer Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen und einer besseren Qualifizierung – und einer stärkeren Zuwanderung abgemildert werden“, betont Fratzscher. Doch die demografische Entwicklung sei schon jetzt nicht nur bei der Rentenfinanzierung ein großes Problem. „Bereits heute sind die meisten Sozialsysteme in Deutschland nicht mehr ausreichend demografiefest, beispielsweise ist die Rente für viele ältere Menschen nicht auskömmlich und die Belastung durch Sozialabgaben für die junge Generation wird zunehmend zu einem Nachteil im globalen Wettbewerb“, warnt Fratzscher. Auch für den sozialen Frieden werde der demografische Wandel zur Belastungsprobe. „Eine Bevölkerungsstruktur, bei der immer weniger beruflich aktive Menschen für immer mehr inaktive Menschen mitarbeiten, ist nicht primär wegen einer geringeren Wirtschaftsleistung oder abnehmender Produktivität ein Problem, sondern weil es zu Verteilungskonflikten zwischen diesen Gruppen führt.“
Die Bedeutung der Familienpolitik wird immer noch unterschätzt
Die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, die Augsburger SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr, beklagt, dass die Familienpolitik noch immer nicht den Stellenwert erhält, den sie vor dem Hintergrund des demografischen Wandels haben müsste. „Es kommen in Deutschland wieder mehr Kinder zur Welt, das liegt auch an der Familienpolitik der vergangenen Jahre“, sagt Bahr. Im Jahr 2021 zählte das Statistische Bundesamt 795.500 Geburten – der höchste Stand seit fast 25 Jahren. Bis zum Wendepunkt 2011 sank die Zahl auf einen Tiefstand von 662.700 Geburten.
„In der Familienpolitik hat sich einiges getan, der Staat unterstützt die Familien angefangen vom höheren Kindergeld, dem Elterngeld, dem Recht auf einen Kita-Platz bis zum Ausbau der Infrastruktur der Betreuungsmöglichkeiten“, sagt Bahr. „Dennoch wandelt sich die Einstellung in der Gesellschaft und auch in vielen Betrieben bei der Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung nur langsam“, betont die SPD-Politikerin. „Das traditionelle Frauenbild ist zwar aufgeweicht, doch der Fortschritt ist eine Schnecke.“ Zwar hätten die Wirtschaftsverbände die Probleme angesichts des Fachkräftemangels erkannt. „Aber wenn ich Betriebe vor Ort besuche, egal, ob kleine, große oder den Mittelstand, ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oft nur ein Randthema. Ich schaue oft in große Augen, wenn ich sage, Familienfreundlichkeit wird immer mehr ein entscheidender Faktor werden, wenn Firmen künftig um Arbeitskräfte werben müssen.“ Und ohne größere Investitionen von Bund und Ländern in die Familienpolitik, wie beispielsweise die Ganztagesbetreuung an Grundschulen oder die Kindergrundsicherung, werde der demografische Wandel nicht zu stemmen sein.
Bayerns Bevölkerung wird noch Jahrzehnte wachsen
Bayern ist laut Prognosen eines der wenigen Bundesländer, das auch bis 2050 noch deutlich wachsen wird – auf dann rund 14 Millionen Einwohner. Mit 1,62 Kinder pro Frau im Alter zwischen 15 und 49 Jahren lag die sogenannte Geburtenziffer 2021 auf dem höchsten Stand seit 1973. Die Bevölkerung wächst aber vor allem durch Zuzug aus dem Ausland. Vor allem die Ballungsregion um München wird bis nach Memmingen im Westen und Landshut im Osten um über 7,5 Prozent wachsen, während viele Landkreise im nördlichen Ober- und Unterfranken mit einem Bevölkerungsrückgang in teils ähnlicher Höhe konfrontiert sein werden.
Bayerns Finanzminister Albert Füracker ist auch „Heimatminister“ und zuständig für die Demografiepolitik. „Oberstes Ziel für unsere Arbeit im Heimatministerium sind gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern“, sagt der CSU-Politiker. Für jeden Landkreis hat der Freistaat Profile mit der Bevölkerungsvorausberechnung bis 2041 vorgelegt und will zielgerichtet die Regionen unterstützen, die von der demografischen Entwicklung besonders betroffen sind. Ein wesentliches Instrument sind für die Staatsregierung weiterhin Behördenverlagerungen aus der Münchner Region in andere Teile Bayerns. „Die Behördenverlagerungen stoßen überall auf positive Resonanz“, sagt Füracker. „Wir wollen, dass die Menschen in ihrer Heimat leben und arbeiten können. Gleichzeitig wollen wir Vorbild für die Wirtschaft sein.“ Insgesamt gebe es messbare Erfolge der Demografiepolitik, sagt er. „Es zeigt sich eine positive Bevölkerungsentwicklung im ländlichen Raum, der Abwanderungstrend wurde gestoppt.“
Auch der Kreis Weilheim-Schongau von Landrätin Jochner-Weiß kann bis 2040 auf Bevölkerungswachstum zählen. „Glücklicherweise haben wir in unserem Landkreis eine hohe Lebensqualität mit vielen attraktiven Arbeitgebern“, erklärt die 62-Jährige. Zudem setze der Kreis offensiv auf Bildung, um besonders junge Fachkräfte im Landkreis halten zu können. „Neben den weiterführenden Schulen haben wir 2022 eine der modernsten Berufsschulen Deutschlands in Weilheim eröffnet“, berichtet die Landrätin. „Und wir bilden zum Beispiel in Schongau Pflegekräfte selbst aus, um diesem Mangel Herr zu werden“, sagt sie. „Bei Ärzten jedoch haben wir leider keine Handhabe.“ Ob die stillgelegte Geburtsstation je wieder in Betrieb geht, bleibt damit fraglich.