
Ausnahmsweise sind sich Bayerns früherer Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) und sein Berliner Feindbild, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), einmal einig. Lauterbach sagte jüngst dem Spiegel auf die Frage zum Umgang mit dem Coronavirus an Schulen: "Der größte Fehler war, dass wir bei den Kindern zum Teil zu streng gewesen sind." Holetschek erklärt auf Anfrage unserer Redaktion: "Mit der Studienlage von heute kann man natürlich sagen: Was die Schulschließungen angeht, hätte man anders agieren können. Kinder und Jugendliche haben in dieser Zeit sehr gelitten." Es müsse jetzt alles getan werden, dort Hilfe anzubieten, wo sie nötig ist.
Schülerinnen und Schüler im Freistaat haben sich zum Teil noch immer nicht von Schulschließungen, von der Isolation daheim im Kinderzimmer und den pädagogischen Schwächen des Distanzunterrichts erholt. Die Autorinnen und Autoren der Pisa-Schulstudie 2022 etwa stellen die historisch schlechten Resultate deutscher Jugendlicher im Zusammenhang mit den langen Schulschließungen. In Mathe verfehlte fast jede und jeder dritte Jugendliche die Mindestanforderungen, beim Lesen ist es jeder vierte. Im Vergleich zu Pisa 2018 entspricht der Rückgang dem durchschnittlichen Lernfortschritt eines ganzen Schuljahres.
71 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schulen sagten in einer studienbegleitenden Umfrage, dass in ihrem Schulhaus in den Coronajahren mehr als drei Monate lang kein Präsenzunterricht stattgefunden hatte - überdurchschnittlich lange im internationalen Vergleich. "In Bildungssystemen, in denen die Leistungen hoch blieben, waren weniger Schülerinnen und Schüler von längeren Schulschließungen betroffen", schreiben die Schöpfer der Pisa-Studie. Beim Distanzunterricht hatten zudem 35 Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen mindestens einmal pro Woche Probleme, die gestellten Aufgaben zu verstehen.
Was aber wichtig ist: Weniger strenge Maßnahmen führten nicht automatisch zu besseren Leistungen. In Schweden etwa waren die Schulen die ganze Pandemie über geöffnet, die Testergebnisse schwedischer Jugendlicher sanken trotzdem im Vergleich zu Pisa 2018.
Ein Fünftel der Schüler könnte noch immer unter den Coronafolgen leiden
Hans-Joachim Röthlein sieht die tieferen Zusammenhänge. Er ist Vorsitzender des Landesverbands Bayerischer Schulpsychologinnen und Schulpsychologen und weiß: "Die meisten Schülerinnen und Schüler haben die Auswirkungen der Pandemie mittlerweile überwunden. Vor allem die, die auch vor Corona schon resilient waren, ein gutes soziales Umfeld hatten und den Leistungsanschluss im Unterricht nicht verloren hatten." Bei denen allerdings, die schon vor den Krisenjahren an Schulen "aus dem Raster gefallen waren" - sei es aufgrund von Lernbeeinträchtigungen oder wegen psychologischer Probleme - sieht es anders aus. Röthlein spricht von rund einem Fünftel aller Schülerinnen und Schüler. "Sie leiden jetzt weiterhin oder noch vermehrt. Und mit den psychischen Problemen gehen Lernprobleme oft einher."
Wenn also Ex-Gesundheitsminister Holetschek sagt, man müsse dort Hilfe anbieten, wo sie nötig ist, was brauchen die Schulen? "Für bessere Lernleistungen braucht es Unterstützungslehrkräfte", sagt Röthlein. "Es ist entscheidend, die Personallücke an Schulen zu schließen. Und wir müssen die soziale Gemeinschaft stärken. Viele Befindlichkeitsstörungen können durch eine gut funktionierende Gemeinschaft gemildert werden."
Seit dem Schuljahr 2021/2022 gibt es in Bayern ein Programm, das pandemiebedingte Defizite bei Kindern und Jugendlichen abbauen soll: "Gemeinsam Brücken bauen". Mit mehr als 2,2 Millionen Euro von Bund und Freistaat konnten die Schulen Studierende und Pensionäre einstellen, um Schüler individuell zu unterstützen. Es gab Förderkurse und Sommerschulen, der Bayerische Jugendring stellte Tausende neuer Angebote im Ferienprogramm auf die Beine, um Kinder zurück ins Sozialleben zu holen. Doch zum Ende des Schuljahres stellt die Staatsregierung das Programm ein - obwohl nicht nur Röthlein und die bayerische Opposition, sondern auch Eltern und Lehrkräfte weiter dringenden Bedarf dafür sehen.
Darüber hinaus reichen die Stunden, die Schulpsychologen zur Verfügung gestellt bekommen, Röthlein zufolge bei Weitem nicht aus, um allen "Krisenfällen" an Schulen gerecht zu werden - und schon gar nicht, um Kinder mit Prüfungsängsten oder Legasthenie in den Blick zu nehmen oder diejenigen, die sich "in der Vorphase einer Depression" befinden. "Da ist noch vieles ausbaufähig."