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Berlin
"Wir haben Afghanistan nie verstanden"
Ellinor Zeino arbeitete für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul. Jetzt ist sie Teil der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung des Auslandseinsatzes am Hindukusch. Ihre Bilanz ist ernüchternd.
«Loja Dschirga» in Kabul.jpeg       -  Paschtunische Stammesfürsten bei einer Loja Dschirga – einer Versammlung, die einberufen wird, wenn grundlegende Entscheidungen getroffen werden sollen.
Foto: S. Sabawoon, dpa (Archivbild) | Paschtunische Stammesfürsten bei einer Loja Dschirga – einer Versammlung, die einberufen wird, wenn grundlegende Entscheidungen getroffen werden sollen.
Simon Kaminski
 |  aktualisiert: 17.03.2024 02:39 Uhr

„Zwischenbericht“ – das klingt bürokratisch, wenig spektakulär. Doch was die Enquete-Kommission mit dem etwas umständlichen Titel „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ im Februar auf 330 Seiten vorlegte, ist in Klarheit und Schärfe der Kritik beispiellos. „Strategisches Scheitern", so lautet das Fazit der Analyse des „größten, teuersten, opferreichsten Kriseneinsatzes“ der Nato mit deutscher Beteiligung. Die Aufarbeitung der Mission ist noch lange nicht abgeschlossen. Am 19. März sollen die Zwischenergebnisse der Enquete-Kommission Thema einer öffentlichen Veranstaltung im Bundestag sein.

Ellinor Zeino – Mitglied der Kommission aus Politikern, Einsatzkräften und Wissenschaftlern – fasst im Gespräch mit unserer Redaktion ernüchtert zusammen: „Wir haben Afghanistan nie verstanden.“ Zeino leitete das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Kabul von 2018 bis zum chaotischen Rückzug der westlichen Truppen und der Rückkehr der Taliban im Jahr 2021. Heute beobachtet sie als Chefin des KAS-Regionalprogramms Südwestasien in der usbekischen Hauptstadt Taschkent die Entwicklungen am Hindukusch. 

Ellinor Zeino: "Uns fehlte oft das Verständnis für die lokale Konfliktsituation"

Zeino nennt Punkte, die sie für das Scheitern der Mission Resolute Support (Entschlossene Unterstützung), die fast 20 Jahre dauerte, verantwortlich macht. „Uns fehlte oft das Verständnis für die lokale Konfliktsituation, für die lokale Gesellschaft“, erklärt die Politikwissenschaftlerin. Man habe viel zu selten Zugang zu schwierigen Akteuren, jenseits unseres kulturellen Wohlfühlspektrums, gesucht – vor allem zu den religiös-konservativen Kräften, deren gesellschaftliche Moralvorstellungen den Ansichten der Mehrheit entsprechen würden. „Dadurch haben wir Vertrauen verloren und unsere Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, begrenzt.“ 

Mit Folgen, wie der Bericht der Kommission darlegt. Darin heißt es etwas verklausuliert, dass bei der Verteilung der Gelder die „Aufnahmefähigkeit und die Kapazitäten der afghanischen Partner“ überschätzt worden seien. Zeino: „Ein Problem in Afghanistan, ja generell für deutsches Engagement im Ausland, ist die Schaffung von Abhängigkeiten – nach dem Motto ´Viel hilft viel’ – und die daraus resultierende fehlende lokale Eigenverantwortung. Auf diese Weise wird auch Korruption befördert.“ Das Land sei vor 2018 komplett abhängig von ausländischen Hilfszahlungen gewesen. Löhne und Ausrüstung für Polizei und Militär seien fast vollständig aus dem Ausland finanziert worden. „Kein Wunder, dass alles zusammengebrochen ist, als die westlichen Truppen abgezogen sind.“ 

Im Raum steht die Frage, ob das erklärte Ziel der Mission, aus einem Land wie Afghanistan mit seinen über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen eine Demokratie nach westlichen Vorstellungen zu machen, sinnvoll gewesen sei. „Wir hatten zu Beginn des Einsatzes völlig unrealistische Ziele“, sagt Zeino. „Die afghanische Gesellschaft ist durchaus demokratiefähig, wir müssen ihr nicht das Konzept von Menschenwürde oder politischer Partizipation erklären, sie hat nur andere Vorstellungen davon als wir. In Afghanistan gibt es seit Jahrhunderten Bürgerräte in den Dorfgemeinschaften, es gibt die Loja Dschirga, die große Versammlung." 

Auch deswegen sei man „krachend gescheitert“. Und das, obwohl Deutschland bis zuletzt ein recht hohes Vertrauen und Image als „ehrlicher Makler“ auch unter Taliban-Anhängern gehabt habe, obwohl es Teil der Nato-Besatzungsmacht gewesen sei. Zeino vermutet, dass ein Grund dafür gewesen sei, dass Deutschland keine „versteckten Interessen“ in Afghanistan unterstellt worden seien. 

Der Kriegszustand endete nach der Machtübernahme der Taliban

Was die aktuelle Situation im Land betrifft, ist das Bild diffus. Die Bevölkerung leidet, seit die Taliban herrschen, nicht mehr unter Kampfhandlungen, die Zahl der früher fast täglichen Anschläge ist stark zurückgegangen. Doch das schwere Erdbeben, dass das Land Anfang Oktober 2023 erschütterte, die Ausweisung Hunderttausender Afghanen aus Pakistan haben die Lage verschärft. Besserung scheint nicht in Sicht. „Das Land ist isoliert, Kontakte sind eigentlich nur informell möglich. Die große Mehrheit der Menschen ist abhängig von humanitärer Hilfe. Die Wirtschaft funktioniert kaum“, sagt Zeino. Sie fürchte, dass es sehr viel Potenzial gibt, dass sich Extremismus in Afghanistan wieder festsetzt. "Ganz einfach, weil die Mehrheit der Bevölkerung minderjährig ist und nun ohne Perspektiven und wirtschaftliche Grundlagen aufwächst." Davon könne am Ende die Terrormiliz Islamischer Staat profitieren. 

Insbesondere für Frauen in den Städten hat sich die Situation verschlechtert. Fast überall müssen Mädchen die Schule nach der sechsten Klasse verlassen. „Dennoch ist die Lage nicht vergleichbar mit der ersten Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001, als Mädchen und Frauen viel extremer unterdrückt wurden. In den ländlichen Gebieten hat sich seit der erneuten Machtübernahme der Taliban nicht viel verändert“, sagte Reinhard Erös, Gründer und Chef der Kinderhilfe Afghanistan, die ihre Bildungsprojekte auch unter den Taliban ohne Abstriche weiterführt, unserer Redaktion vor einigen Wochen. 

Auch Taliban-Anhänger wünschen sich Bildung für ihre Töchter

Ellinor Zeino, die im Sommer 2023 in Afghanistan war, hat den Eindruck, dass auch die Mehrheit der Taliban-Anhänger unzufrieden ist über die Einschränkungen für Mädchen und Frauen, weil sie für ihre Töchter Bildung in einem konservativ-religiösen Sinne durchaus wollen. „Aber darüber entscheidet eben nicht die Mehrheit, sondern die erzkonservative Taliban-Führung in Kandahar.“ 

Sitzen die islamistischen Machthaber fest im Sattel? Afghanistan-Experte Thomas Ruttig glaubt, dass Meldungen über Kontroversen innerhalb der Taliban im Westen überschätzt werden. Trotz verschiedener Strömungen würden die „Taliban alles daran setzen, eine Spaltung und so einen Machtverlust wie 2001 zu vermeiden“. 

Die Aufarbeitung geht indessen weiter. „Jetzt arbeiten wir am Abschlussbericht mit konkreten politischen Empfehlungen. Es geht um die Frage, was sich in Zukunft im Auslandsengagement, in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Entwicklungszusammenarbeit konkret ändern muss“, sagt Ellinor Zeino.

 
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