Einen Monat nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel hat sich die Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden in Deutschland verschärft. Zu dieser Einschätzung kommt ein neues Lagebild der Amadeu Antonio Stiftung, die sich seit 1998 gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet. Zu beklagen ist demnach nicht nur eine Zunahme von direkten Angriffen auf Menschen und Sachbeschädigungen. Die Stiftung stellt darüber hinaus eine steigende Indifferenz gegenüber dem Nationalsozialismus, die zunehmende Verharmlosung des Holocaust und ein erschreckendes Nichtwissen über die Nazi-Zeit fest.
„Machen wir uns nichts vor. Die Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden ist hoch“, sagte Projektleiter Nikolas Lelle. Das gelte mit Blick auf die weltweite Entwicklung, aber auch in Deutschland nähmen die Angriffe auf Jüdinnen und Juden zu. Seit dem 7. Oktober habe der Hass gegen Jüdinnen und Juden ein „nie dagewesenes Niveau“ erreicht. Dieser gehe nicht nur von Menschen aus, die propalästinensisch eingestellt seien. Im „Windschatten der Terrorverherrlichung“ setze auch die „extreme Rechte“ ihre Angriffe fort, mahnte Lelle und ergänzte: „Auch in der aktuellen Situation dürfen wir die extreme Rechte nicht aus dem Blick verlieren, die gerade so tut, als sei sie von aller Schuld befreit.“ Der Experte nannte „namentlich die sogenannte Alternative für Deutschland“.
Fast täglich Angriffe auf Jüdinnen und Juden
Der Antisemitismus zeigt sich der Stiftung zufolge in fast täglichen Angriffen auf Jüdinnen und Juden. Gedenkstätten werden geschändet, zur Erinnerung an ermordete und deportierte Juden versenkte Stolpersteine verätzt. Die Täterinnen und Täter beschmieren Häuser mit Hakenkreuzen und Davidsternen. Darüber hinaus werden klar definierte, historisch belastete Begriffe wie Zivilisationsbruch oder Holocaust von Rechtsextremisten gezielt umgedeutet. Sätze wie „Arbeit macht frei“, der zur Verhöhnung der Insassen in vielen Konzentrationslagern auf Schildern und Wänden prangte, setzen Antisemiten bewusst in einen anderen Kontext.
Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, verwies auf die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen. „Bundesweit werden Plakate beschädigt und zerstört. Veranstaltungen müssen aufgrund der akuten Gefährdungslage abgesagt werden. Antisemitinnen und Antisemiten bekämpfen die Antisemitismusbekämpfung“, konstatierte er. Es gehe nach dem 7. Oktober vielfach nicht einmal um Kritik an Israel, sondern „um puren Antisemitismus und Hass“. Unmittelbar vor dem Gedenken an das Novemberpogrom 1938 mahnte Klein Wachsamkeit an, betonte aber auch, dass Deutschland eine gefestigte Demokratie und ein Rechtsstaat sei.
Judenhass bei Jüngeren stärker
Für Projektleiter Lelle steht fest, dass Antisemitismus in Deutschland sehr präsent sei. „Das heißt auch, dass der Platz für Jüdinnen und Juden in Deutschland kleiner wird“, mahnte er. Verbreitet wird der Hass auf Jüdinnen und Juden nicht nur von Älteren. „Junge Menschen sind inzwischen antisemitischer als Ältere“, erklärte die Wissenschaftlerin Beate Küpper von der Hochschule Niederrhein. Ein neues Phänomen sei das nicht, die Entwicklung lasse sich seit Längerem beobachten.
„Und wer antisemitische Einstellungen teilt, neigt auch eher zu anderen demokratiegefährdenden und rechtsextremen Einstellungen“, ergänzte Küpper, die ebenfalls zur Wachsamkeit mahnte: „Es ist mit der Eskalation des Nahostkonflikts leider zu befürchten, dass die Anfeindungen gegenüber Jüdinnen und Juden weiter zunehmen werden.“