Weit mehr als 1100 Kilometer waren die ballistischen Raketen unterwegs, bevor sie in der Nacht zu Dienstag in der nordirakischen Stadt Erbil explodierten. Abgefeuert von den iranischen Revolutionsgarden. Es gab Tote und Verletzte. Parallel wurde auch das syrische Idlib attackiert. Der Angriff auf Syrien habe dem Islamischen Staat (IS) gegolten, erklärten die Revolutionsgarden. Die Terrormiliz hatte sich ihrerseits zu einem blutigen Anschlag Anfang des Jahres auf eine Gedenkfeier zum Jahrestag der Tötung des iranischen Generals Soleimani in dessen Heimatstadt Kermani mit mehr als 90 Todesopfern bekannt.
Die iranischen Raketen auf Erbil sollten offiziell ein geheimes Spionagezentrum des israelischen Geheimdienstes Mossad zerstören, allerdings liegen die Einschlagstellen sehr nahe am US-Konsulat in der Stadt, was Spekulationen auslöste. Dass diese unterschiedlichen Ziele plausibel erscheinen, deutet an, wie groß die Palette der Konflikte in Nahost ist, in die das iranische Regime verwickelt ist.
Der Kampf gegen Israel steht für Teheran außenpolitisch an erster Stelle
Über allem steht derzeit jedoch die Koordination der vom Iran organisierten und dominierten „Achse des Widerstandes“, die sich dem Kampf gegen Israel verschrieben hat. Gleichzeitig hat sich das Verhältnis zu dem großen Rivalen um die Macht in der Region, dem Golfstaat Saudi-Arabien, zuletzt etwas entspannt. Ob Hamas und Islamischer Dschihad in Gaza, die Hisbollah im Libanon oder die jemenitischen Huthi sowie viele kleinere islamistische Milizen – der Iran versorgt Feinde Israels mit Geld, Waffen und militärischer Ausbildung.
Wird der Kampf der „Achse des Widerstandes“, wie Berichte nahelegen, tatsächlich von den Bevölkerungen der beteiligten Länder enthusiastisch begrüßt? Diesem Bild widerspricht die deutsche Nahost-Expertin mit iranischen Wurzeln, Azadeh Zamirirad: „Ich denke, sowohl die Hamas als auch Teheran haben auf größere Unterstützung spekuliert“, sagte Zamirirad von der Bundesstelle für politische Bildung. In der breiten Masse habe die Achse keine große Unterstützung, da sie als Mittel des Iran wahrgenommen werde, in „Nachbarstaaten einzugreifen“.
Seit dem beispiellosen Massaker der Hamas–Terroristen an Zivilisten in Israel am 7. Oktober und dem massiven israelischen Gegenschlag im Gazastreifen wächst weltweit die Sorge vor einem Flächenbrand, der in einen offenen Krieg des Iran mit Israel gipfeln könnte. Der leitende Redakteur des Online-Magazins Iran Journal, Farhad Payar, glaubt nicht, dass der Iran dieses Ziel verfolgt: „Ein solcher Krieg wäre für das Regime in Teheran Selbstmord. Und für den mächtigen Religionsführer und Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei hat der Machterhalt oberste Priorität – im Zweifel noch vor dem erklärten Ziel der Hardliner, die islamische Revolution ins Ausland zu exportieren“, sagte Payar, der im Iran geboren und aufgewachsen ist, im Gespräch mit unserer Redaktion. Hinzu komme, dass die tiefe Wirtschaftskrise, in der das Land nicht zuletzt aufgrund westlicher Sanktionen steckt, Investitionen in ausländische Milizen erschwere.
Innenpolitisch konnte das Regime zwar die Massenproteste der Bevölkerung brutal niederschlagen, doch der Widerstand eines großen Teils der Bevölkerung gegen die Macht der Mullahs ist ungebrochen – auch wenn er vorsichtiger, subtiler geworden ist.
War das Regime im Iran in die Vorbereitungen des Massakers der Hamas involviert?
Ob Teheran in die Vorbereitungen für das Hamas-Massaker vom 7. Oktober involviert war, ist umstritten. Sicher ist, dass das Regime die Hamas massiv unterstützt. Allerdings lässt sich die fanatische Terrororganisation, die von Hass und Vernichtungswillen gegenüber Israel getrieben wird, nur schwer kontrollieren. Payar: „Den schiitisch dominierten Iran und die sunnitische Hamas eint nur die Feindschaft zu Israel. Die Führer der Organisation würden sich lieber den Saudis oder Katar zuwenden, wenn diese sunnitischen Staaten sie vorbehaltlos unterstützen würden – aber das werden sie mit Rücksicht auf ihre Beziehungen zum Westen nicht tun.“ Hinzu komme, dass sich der Iran nie für einen palästinensischen Staat eingesetzt habe.
Im Irak hat der Iran nach Einschätzung Payars zuletzt stark an Einfluss verloren. Es fehle schlicht an finanziellen Mitteln, schiitische Gruppen weiterhin mit der gleichen Intensität wie in früheren Jahren zu unterstützen. Gleichzeitig habe sich der Irak den finanziell ungleich potenteren Saudis zugewandt, die sich im Land verstärkt engagieren.
Auch im Kriegsland Syrien ist der Iran aktiv
Nach wie vor aktiv ist der Iran im Kriegsland Syrien. Teheran unterstützt Diktator Baschar al-Assad zwar seit den Unruhen von 2011 und dem sich daraus entwickelnden Bürgerkrieg bis heute direkt sowie indirekt über die Hisbollah-Milizen und weitere islamistische Gruppen. Doch auch in Syrien macht sich die prekäre wirtschaftliche Lage des Iran bemerkbar.
Ganz anders im Libanon. Dort spielt die schiitische Hisbollah eine entscheidende Rolle – militärisch, aber auch politisch. Sie wird von Teheran ohne Abstriche unterstützt und aufgerüstet, obwohl die Mittel knapp sind. „Die Miliz wurde von den Revolutionsgarden Anfang der 1980er-Jahre aufgebaut und ist ohne den Iran kaum überlebensfähig“, sagte Payar über die militärisch stärkste Gruppe in der „Achse des Widerstandes“. Noch liefert sich die Hisbollah mit Israel einen militärischen Schlagabtausch auf Distanz. Doch eine umfassende Konfrontation ist nicht auszuschließen.
Viel Lob gibt es aus Teheran für die Attacken der jemenitischen Huthi, die immer wieder Drohnen und Raketen auf Handelsschiffe im Roten Meer abfeuern, die nach ihrer Ansicht „in Verbindung mit Israel“ stehen. „Die Nation des Jemen und Ansar Allah (Huthi) haben in der Tat eine große Arbeit geleistet“, jubelte Religionsführer Chamenei. Die Huthi, die mit ihren rund 200.000 Kämpfern wichtige Teile des Jemen kontrollieren, ließen sich auch nicht von Angriffen der US-amerikanischen und britischen Marine von ihren Attacken gegen den bedeutenden Handelsweg vor der Küste des Jemen abschrecken. Doch auch wenn sich die Huthi stolz zur „Achse des Widerstandes“ zählen, ein willfähriges Instrument in den Händen des Iran sind die selbstbewussten Milizen nicht.
Israel nennt die „Achse des Widerstandes“ beharrlich „Achse des Bösen“ und sieht im Iran völlig zu Recht die große Spinne im Netz. Farhad Payar allerdings hat große Zweifel, ob Teheran über die Macht verfügt, souverän die Fäden zu ziehen. „Ich glaube, dass noch nicht einmal Ayatollah Chamenei so genau weiß, welche Ziele der Iran verfolgen soll.“
Tatsächlich wirkt die sprunghafte Art, mit der sich Teheran der mehr oder weniger abhängigen Milizen und Organisationen im Kampf gegen Israel bedient beziehungsweise punktuell direkt mit eigenen Kräften eingreift, planlos. Das zeugt von einer Verunsicherung, die das Regime nahezu unberechenbar macht. Eine gute Nachricht für den Nahen Osten ist das nicht.