Eine Zeitenwende ist eine große, komplizierte Sache. Zumal bei Streitkräften, die derart heruntergewirtschaftet sind wie die deutsche Bundeswehr. Dazu benötigt man Geld, effektive Strukturen – vor allem aber motiviertes Personal. Ausgerechnet an dieser Stelle hakt es, denn die geplante Aufstockung der Truppe kommt nicht voran. Im Gegenteil, wie schon 2021 schieden 2022 mehr Soldaten und Soldatinnen aus der Bundeswehr aus als neue hinzukamen.
In Zahlen: Im vergangenen Jahr kehrten gut 19.500 Soldaten den Streitkräften den Rücken, während in diesem Zeitraum knapp 18.800 zur Truppe stießen. Damit waren zum Jahreswechsel 2022/23 nur noch 183.050 Frauen und Männer bei den verschiedenen Waffengattungen der Truppe tätig – dies berichtete am Donnerstag die Neue Osnabrücker Zeitung, die eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums zitiert.
Das Ziel der Bundeswehr: Eine Truppenstärke von 203.000 Soldaten bis 2031
Ein Trend, der es noch schwieriger machen dürfte, das politisch gesetzte Ziel zu erreichen, bis ins Jahr 2031 auf eine Truppenstärke von 203.000 Soldaten zu kommen. Dafür müssten nicht nur im Schnitt pro Jahr rund 21.000 Frauen und Männer rekrutiert werden, auch die Zahl derjenigen, die ihre Ausbildung oder ihren Dienst quittieren, müsste spürbar sinken. Die Schaffung von 7000 neuen Dienststellen bis 2031 immerhin ist fest zugesagt. Die Kunst wird sein, sie auch dauerhaft zu besetzen. 2022 haben nach Auskunft des Ministeriums mehr als 2200 Soldaten ihren Dienst sogar vorzeitig quittiert. Dabei geht es um Dienstunfähigkeit, aber auch um Fälle, in denen die sechsmonatige Probezeit abgebrochen wurde.
Natürlich wird die Armee als Arbeitgeber nicht attraktiver, wenn sie in den Medien regelmäßig als schlecht ausgerüstet und verwaltet dargestellt wird. Dass dies nicht übertrieben ist, belegt jetzt das Buch des früheren Fallschirmjägers Achim Wohlgethan (Blackbox Bundeswehr, Econ Verlag), der bis 2006 bei der Bundeswehr Dienst tat, heute für den Bundeswehrverband, die Interessenvertretung für Soldaten, tätig ist und dabei immer wieder Kasernen besucht. Wohlgethan schildert insbesondere auch die Grundausbildung als desillusionierend für die Rekruten. Die jungen Männer und Frauen würden oft beschäftigungslos „herumhängen“, die Gefechtsausrüstung sei veraltet oder gar nicht erst vorhanden. „Da sinkt die Motivation schon in den ersten Tagen“, bilanziert Wohlgethan, der in seinem Buch eine Fülle von zum Teil absurden Anekdoten aufführt, die die Streitkräfte als Hort des Mangels und der Frustration skizzieren.
Beobachtungen, die sich auch im Jahresbericht der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD) finden. Dort wird das Bild einer in weiten Teilen dysfunktionalen Truppe gezeichnet, die nun auch noch darunter leidet, dass Ausrüstung und Waffensysteme in die Ukraine abgegeben werden, um das Land im Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor zu unterstützen. Hinzu kommt, dass in der Bevölkerung seit Beginn des Krieges mitten in Europa die Angst vor einer Verwicklung in militärische Konflikte gewachsen ist.
Die verkrusteten Strukturen der Bundeswehr erschweren eine "Zeitenwende"
Gegen all dies steht der Begriff „Zeitenwende“, den Kanzler Olaf Scholz– unterfüttert mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro – eingeführt hat. Doch es zeigt sich, dass die Strukturen der Bundeswehr, insbesondere im Beschaffungswesen, eine Umsetzung dieses Versprechens erschweren. Kein Zufall, dass der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) jetzt die bisherige Präsidentin des Beschaffungsamtes, Gabriele Korb, gegen Annette Lehnigk-Emden, die derzeitige Vizepräsidentin der Koblenzer Bundesbehörde, ausgetauscht hat. Pistorius hat die schwierige Aufgabe, die Bundeswehr aus dem Tal der Tränen zu holen. Seine emphatische Ansprache an die Soldaten und seine schonungslose Analyse der Lage machen Hoffnung.